Beschreibung
Wenn Menschen scheinbar aus dem Nichts ausflippen, steckt manchmal ganz schön viel dahinter. Bei Ines Geiger etwa, die aus Frust auf ihren Arbeitsalltag nur noch positive Asylbescheide ausstellt. Bei Heide, die mit ihrem kleinen Sohn den Kindergarten besetzt, weil die Öffnungszeiten für eine Alleinerzieherin ein Witz sind. Oder bei ihrer Exfrau, der Astronautin Katalin, die angesichts einer sturen KI in ihrer winzigen Kabine auf der Raumstation ISS rabiat wird, während die Aktivistin Milka aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen in der Lebensmittelindustrie im Supermarkt mit Tomaten um sich wirft. Sie alle wollen etwas verändern, für sich persönlich oder im Großen. Ihnen allen wurden Steine in den Weg gelegt, die manchmal nur mit Gebrüll aus dem Weg gesprengt werden können. Ursula Knoll zeigt in ihrem Debütroman eindrucksvoll, wie wir mit der Erde, dem ewig ungerechten Geschlechterverhältnis und schließlich mit uns selbst umgehen.
Autorenportrait
Ursula Knoll, 1981 in Wien geboren. Studium der Germanistik, Judaistik und Romanistik in Wien, Bishkek, Washington DC und Prag. Ausbildung zur Dramatikerin am Burgtheater Wien und bei den wiener wortstaetten. Literaturwissenschaftliche Promotion über NS-Täter*innenschaft. 2009 Thomas-Bernhard-Stipendium für Dramatisches Schreiben. 2010 Raul-Hilberg-PhD-Stipendium. 2021 Stipendiatin beim kollaborativen Dramatiker*innen-Programm Tour des Textes. Ihr Roman »Lektionen in Dunkler Materie« wurde mit dem Bloggerpreis Das Debüt 2022 ausgezeichnet.
Leseprobe
'Wir bleiben', sagt die Mama. 'Das geht nicht', sagt die Fatima. 'Natürlich geht das', erwidert die Mama. 'Bitte kommen Sie jetzt endlich', wiederholt Fatima. 'Das ist nichts Persönliches', beruhigt die Mama. 'Schließen Sie ruhig ab.' 'Das kann ich nicht', sagt Fatima, ihr rechter Schuh trommelt auf den Boden. 'Gehen Sie nach Hause', sagt die Mama und dreht sich zum Puzzle zurück. 'Sie sollen gehen', zischt Fatima, jetzt schon viel lauter. 'Ich habe doch gesagt, dass wir bleiben', sagt die Mama. Nichts passiert. Die Fatima steht da und schaut ratlos in den Raum. Die Mama findet zueinanderpassende Teile. Sie tippt Linus an, das nächste Teil anzustecken. Ein halber Giraffenkopf grinst beide an, Linus drückt mit dem Daumen das Auge der Giraffe im Loch fest. 'Was tun Sie da?', fragt die Fatima und lässt sich auf einen Kindersessel fallen, der unter ihrer Jacke verschwindet. 'Besetzen', sagt die Mama und zwinkert Linus zu. 'Besetzen', wiederholt Linus und betastet das Wort in seinem Mund. Er kennt es nicht, auch in keiner der Kinderbuchgeschichten kommt es vor. So wie die Mama aussieht, macht sie diese Art von Sitzen aber jedenfalls viel fröhlicher als sonst. Die große Fatima scheint es auch nicht zu kennen. 'Was heißt denn besetzen?', zischt sie wütend. Sie sieht die Mama dabei nicht an. 'Ich kann so nicht weitermachen. Wenn ich arbeite, kann ich nicht rechtzeitig hier sein. Wenn ich rechtzeitig hier sein soll, kann ich nicht arbeiten. Wenn ich nicht arbeite, kann ich die Wohnung nicht halten. Wenn ich die Wohnung nicht halte, kann ich nicht arbeiten. Wegen der Arbeitszeit, dem Busplan, den Kindergartenöffnungszeiten. Das geht nicht gegen Sie persönlich. Wir machen jetzt damit Schluss. So einfach ist das.'