Beschreibung
Im archaischen Süditalien der 1980er Jahre wächst Biagio ganz allein bei seinem Vater, dem Dorfmetzger auf. Dieser ist nach dem Unfalltod seiner Frau nahezu verstummt. In einer Welt, die jeden, der anders ist, zwingt, die eigenen Gefühle herunterzukühlen, als wären sie Rinder- und Schweinehälften, versucht Biagio beharrlich, sich einen Platz zu erkämpfen. Atmosphärisch-dicht schildert Fiorino das Leben eines jungen Mannes, der davon träumt, aus der deprimierenden Hässlichkeit und toxischen Männlichkeit seiner Umgebung auszubrechen.
Autorenportrait
Maurizio Fiorino wurde 1984 in Crotone geboren. Nach Kindheit und Jugend in Kalabrien zog er zunächst nach Bologna, um dort DAMS (Kunst-, Musik-, Theater- und Filmwissenschaften) zu studieren, dann nach New York, wo er das International Centre of Photography besuchte. Seine Bilder wurden von diversen amerikanischen Galerien ausgestellt. Heute arbeitet er sowohl in den USA als auch in Italien als Fotograf. 2014 veröffentlichte er seinen Debütroman Amodio (Gallucci), zwei Jahre später folgte Fondo Gesù (Edizioni e/o). Ebenfalls bei e/o sind auch 2019 Ora che sono Nato und 2021 Macello erschienen. Als ge- fragter Feuilletonist hat er Artikel für The Guardian, La Lettura, L'Espresso, Il Venerdì und Il Foglio verfasst. Derzeit schreibt er für die Kulturseiten von La Repubblica, Robinson und D.
Leseprobe
So gern ich auch das Gegenteil behaupten würde: zu sagen, mein Vater sei ein schöner Mann, wäre dreist gelogen. Mein Vater war von einer erschreckenden Hässlichkeit. Er hieß Bruno, aber im Dorf nannten ihn alle nur den Metzger. Einige, mit denen er mehr Kontakt hatte, nannten ihn il brigante, da er als Kind davon träumte, ein Bandit zu sein und frei in den Bergen zu leben, wie er mir mal erzählte. Nur meinetwegen hatte er darauf verzichtet. Er war erst siebzehn, als er Vater wurde, und sah aus wie ein Gespenst: Er war dünn wie ein Blatt Papier. Hals, Arme, Finger waren klapperdürr, die Nase lang wie ein Vogel- schnabel. Er hatte eine kleine Narbe im rechten Mundwinkel, unweit der Wange, und eine noch tiefere an der Augenbraue. Sein ganzer Körper war von einer inneren Unruhe erfüllt. Die stets straff gespannte Haut voller geplatzter Äderchen schien einen weiteren Körper zu enthalten, der in ihm gefangen war und den ich mir schöner vorstellte, ein Körper, der herauswollte und schrie, sich aber einfach nicht befreien konnte. Von meiner Mutter gab es bei uns zuhause kein einziges Foto. Nur einmal fragte ich Vater danach. Der warf mir einen Blick zu, den ich später nie mehr an ihm sehen sollte. Er schaute durch mich hindurch, als wäre ich ein Gespenst oder als staunte er, dass ich überhaupt in der Lage war, mir über Nichtvor- handenes einen Kopf zu machen. Er antwortete mir nicht, und ich sollte ihn nie wieder danach fragen. Ich habe meine Mutter nur so kurz gekannt, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern kann. Ich weiß nur noch, dass sie Lucia hieß und vor meinem ersten Geburtstag bei einem Autounfall starb. Meine Geburt und ihr Tod hatten nichts miteinander zu tun, auch wenn ich immer gedacht habe und heute noch denke, dass mein Vater vom genauen Gegenteil überzeugt war und ich ihn an jedem Tag seines Lebens schmerzlich daran erinnerte, dass er mit achtzehn ein Brigante hatte sein wollen, doch stattdessen Vater und Witwer geworden war, jemand der innerlich tot ist. Eines Morgens, es wurde gerade Herbst, taufte man mich auf den Namen seines Bruders Biagio. Soweit ich mich erinnern kann, war ich als Kind von ansteckender Fröhlichkeit. Ich hatte mehrere Ticks und einige haben mich, wenn auch in abgeschwächter Form, bis ins Erwachsenenleben begleitet, ja im Grunde bis heute. Ich lachte, ich lachte ständig, auch in unpassenden Momenten, und wenn ich mich aufregte, brüllte ich nicht, sondern rieb mir die Hände, als klebten Krümel daran, während zu meinen Füßen ein Schwarm hungriger kleiner Vögel wartete. Das Dorf, in dem ich geboren bin, hörte irgendwann auf zu existieren und wurde unter solchen Regenmassen begraben, dass es sich in ein Geisterdorf verwandelte. Ich war fünf, als es zu regnen begann und tagelang nicht mehr aufhörte. Nach einer Woche gerieten die Häuser am Hang ins Rutschen, gleich darauf die nächsten, dann die dahinter und immer so weiter. Bis wir eines Tages mit dem Hubschrauber abgeholt und in einer Straße mit lauter leeren Gebäuden abgesetzt wurden, in dem, was nun das neue Dorf, Bagnamurata, sein sollte - ein Fleckchen Erde, das weder am Meer noch im Hinterland lag. Es sah aus, als wäre es zwischen zwei Bergen stecken geblieben. Kannst du dort oben unser Haus sehen?, fragte mich mein Vater eines Morgens. Schau nur, es ist verschwunden. Eines Tages werde auch ich ohne jede Vorwarnung verschwinden. Daraufhin brach er in lautes Gelächter aus, in das ich mit einfiel, um ihn nachzuahmen.