Beschreibung
Käthes Vater ist ein aufstrebender Architekt in Bielefeld und ihre Mutter die Tochter des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde der Stadt. Was als normales Leben einer bürgerlichen Familie mit drei Töchtern beginnt, wird schließlich mehr und mehr überschattet von den Auswirkungen der politischen Entwicklung ab 1933. Sprachlich klar und auf zurückhaltende Weise intensiv beschreibt Karen Gershon das Verhältnis zu ihren Eltern, deren Verhältnis zueinander, die Charaktere der drei sehr verschiedenen Schwestern und deren Wechselwirkungen untereinander, aber auch das Leben im Jüdischen Landschulheim Herrlingen, ihre literarischen Anfänge, erste irritierende Liebesgefühle und bittere Selbsterkenntnisse. Das alles geschieht vor dem Hintergrund des erzwungenen Abstiegs der Familie und der sich immer weiter steigernden Diskriminierung. Die extrem bedrohliche Situation und die Auswirkungen des Novemberpogroms in ihrer Stadt sind dann der Endpunkt des Lebens der drei Mädchen in Deutschland. Karen Gershons Kunst ist es, all dies auf sehr nahekommende Weise in Worte zu fassen und ein Kinderschicksal des 20.Jahrhunderts sehr lebensecht in Erinnerung zu bringen.
Autorenportrait
Karen Gershon, geboren am 29.8.1923 als Käthe Löwenthal in Bielefeld, gelangte als 15-Jährige 1938 nach Großbritannien, während ihre Eltern in Deutschland zurückblieben und ermordet wurden. Ende der 60er Jahre zog sie nach Israel, kehrte aber Mitte der 70er wieder zurück und ließ sich in Cornwall nieder. Sie veröffentlichte im Laufe ihres Lebens Gedichtbände, Sachbücher, Autobiografisches sowie Romane und wurde für ihr Werk mehrfach mit Preisen gewürdigt. Bisher ins Deutsche übertragen wurden eine Auswahl ihrer Lyrik ("'Mich nur zu trösten bestimmt'", 2000), ihr Roman "The Fifth Generation" ("Die fünfte Generation", 1988) und das außergewöhnliche Sachbuch "We Came as Children" ("Wir kamen als Kinder", 1988), in dem sie 1966 anhand vieler autobiografischer Stimmen das Schicksal der aus dem Machtbereich der Nazis nach England geretteten Kinder nachzeichnete und in seinen zahlreichen Nuancen bewusst machte. Ihre Autobiografie Das Unterkind erschien 1992 zuerst in der deutschen Übersetzung Sigrid Daubs, die sie noch redigieren konnte, und postum 1994 im englischen Original ("A Lesser Child"). Ein zweiter Teil über die Jahre 1938 bis 1943 wurde unter dem Titel "A Tempered Wind" erst 2009 veröffentlicht. Karen Gershon starb 1993.
Leseprobe
Niemand machte Käthe klar, dass das Schlimmste noch lange nicht vorbei war, und ihre Eltern sagten ihr nicht, dass sie auf das Schlimmste gefasst waren. Sie sagten ihr nicht, es fällt uns so schwer, dich gehen zu lassen, weil es sehr gut möglich ist, dass wir uns nie wiedersehen. Im Gegenteil, um dem Kind die Trennung leichter zu machen, hatten sie gemeinsam beschlossen, so zu tun, als hätte dieser Abschied keine Bedeutung, als wäre er nichts anderes als jeder andere der vielen Abschiede, seit sie mit elf Jahren zum ersten Mal von zu Hause weggegangen war, als würde sie diesmal nur ein bisschen weiter weg fahren. Jetzt würde die Reise mal übers Meer gehen, das wäre doch wohl aufregend. Selbstverständlich fand Käthe das auch.