Beschreibung
»Zum Teufel noch mal, was für ein großartiger Schriftsteller, schon mit 26 Jahren!« Andrea Camilleri Ein einziger Tag in ihrer Kindheit, so scheint es, hat über ihr ganzes Leben entschieden. An einem solchen Tag verlor Alice für immer ihre Unbeschwertheit und das Vertrauen zu ihrem halsstarrigen Vater. Mattia hingegen verlor mit sechs Jahren seine Schwester, deren Hilfsbedürftigkeit er ein einziges Mal, für wenige Stunden, missachtet hatte. Seither quälen ihn Schuldgefühle, die er niemandem offenbart. Sieben Jahre später lernen Mattia und Alice sich auf dem Gymnasium kennen. Die Anziehungskraft zwischen den beiden scheint unwiderstehlich. Jeder erkennt im anderen die eigene Einsamkeit. Alice ist der einzige Mensch, dem Mattia wenigstens einmal seinen Schmerz zu offenbaren wagt. Und umgekehrt würde sie nie einen anderen als ihn bitten, das Tattoo von ihrer Haut zu entfernen, mit dem sie ihre inneren Wunden gleichsam übermalen wollte. Doch mit den Jahren werden die Hindernisse, die die beiden einander unbewusst in den Weg legen, höher und höher. Bis sie sich entscheiden müssen. In einer ebenso klaren wie poetisch-eindringlichen Sprache erzählt Paolo Giordano die Geschichte von Alice und Mattia, die wie Primzahlzwillinge nahe beieinanderstehen und doch immer durch eine Winzigkeit getrennt bleiben. Komplexe Seelenzustände schildert er so genau, dass sie fassbar werden und uns tief berühren. Paolo Giordano findet unvergessliche Bilder für die verschlungenen Wege, auf denen die Dramen der Kindheit in uns fortwirken. Seine Prosa verwandelt auf magische Weise Schmerz in Trost. Ausgezeichnet mit Italiens renommiertestem Literaturpreis - dem »Premio Strega«. Mit 26 Jahren ist Paolo Giordano der jüngste Gewinner aller Zeiten.
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Leseprobe
Alice Della Rocca hasste die Skischule. Sie hasste den Wecker, der auch jetzt in den Weihnachtsferien morgens früh um halb acht klingelte, und ebenso ihren Vater, der ihr beim Frühstücken zusah und dabei nervös mit dem Bein unter der Tischplatte wippte, wie um zu sagen: Los, beeil dich doch endlich. Sie hasste die Strumpfhose, die an den Oberschenkeln kratzte, die Skihandschuhe, in denen sie die Finger nicht bewegen konnte, den Helm, der ihre Wangen zusammenkniff und dessen Metallschnalle sich in ihren Unterkiefer bohrte, und vor allem diese Skischuhe, die viel zu eng waren und in denen sie wie ein Gorilla lief. "Was ist denn? Trink doch endlich mal die Milch aus!", drängte ihr Vater weiter. Und so kippte Alice eine halbe Tasse heiße Milch hinunter, die ihr zuerst die Zunge, dann die Speiseröhre und schließlich den Magen verbrannte. "Na also. Und heute zeigst du ihnen mal, wer du bist", sagte er. Und wer bin ich?, dachte sie. Dann schob er sie hinaus, eingemummt in den grünen, mit Abzeichen und phosphoreszierenden Sponsorenlogos übersäten Skianzug. Um diese Tageszeit war es zehn Grad minus draußen, und die Sonne war nur eine dunkle Scheibe im Grau des Nebels, der alles umhüllte. Alice spürte, wie die Milch in ihrem Magen rotierte, während sie durch den tiefen Schnee stapfte, mit den Skiern auf der Schulter, die man selbst tragen musste, solange man nicht so gut war, dass andere sie für einen trugen. "Halte die Spitzen nach hinten, sonst erstichst du noch jemanden", forderte ihr Vater sie auf. Am Ende der Saison schenkte der Skiclub jedem Mitglied eine Anstecknadel, die mit Sternchen besetzt war. Jedes Jahr ein Sternchen mehr. Die erste erhielt man mit vier Jahren, wenn man groß genug war, um den Liftbügel zwischen die Beine zu klemmen, die letzte, wenn man neun war und sich den Bügel selbst greifen konnte. Drei silberne Sternchen und dann drei goldene. Jedes Jahr eine neue Anstecknadel, die einem sagte, dass man näher herangekommen war an die Wettkämpfe, vor denen es Alice so grauste. Schon jetzt dachte sie daran, obwohl sie erst drei Sternchen besaß. Treffpunkt war der Sessellift, punkt halb neun, wenn die Anlage geöffnet wurde. Alices Kameraden waren bereits eingetroffen. In einer Art Kreis standen sie da, wie kleine Soldaten eingemummelt in ihre Skiuniformen und starr vor Müdigkeit und Kälte. Sie hatten die Enden ihrer kurzen Skistöcke, die im Schnee staken, unter die Achseln geklemmt und stützten sich darauf. Mit ihren baumelnden Armen sahen sie aus wie eine Schar Vogelscheuchen. Keiner hatte Lust zu reden, am allerwenigsten Alice. Ihr Vater versetzte ihr zwei übertrieben kräftige Schläge auf den Helm, als wolle er seine Tochter in den Schnee rammen. "Mach sie fertig. Und denk immer dran: Körpergewicht nach vorn, verstanden? Gewicht-nach-vorn." Gewicht nach vorn, antwortete ihm das Echo in Alices Kopf. Dann entfernte er sich, wobei er in seine zum Kelch zusammengelegten Hände hauchte. Schon bald würde er wieder in der warmen Stube sitzen und seine Zeitung lesen. Nach zwei Schritten hatte der Nebel ihn bereits verschlungen. Alice ließ ihre Ski so achtlos zu Boden fallen, dass sie, hätte ihr Vater es gesehen, auf der Stelle vor aller Augen ein paar hinter die Ohren bekommen hätte. Bevor sie die Skischuhe in die Bindung einrasten ließ, klopfte sie mit den Stöcken gegen die Sohlen, um die festklebenden Schneeplacken zu lösen. Es tröpfelte schon ein wenig. Wie eine Nadel, die sich in ihren Unterleib bohrte, spürte sie den Druck auf der Blase. Auch heute würde sie es nicht schaffen, das war ihr klar. Jeden Morgen die gleiche Geschichte. Jeden Morgen schloss sie sich nach dem Frühstück im Bad ein und presste und presste, um alle Flüssigkeit loszuwerden. Dann saß sie da und zog so fest die Eingeweide zusammen, dass ihr von der Anstrengung ein Stich durch den Kopf fuhr und sie das Gefühl hatte, die Augäpfel träten ihr aus den Höhlen, wie das Fruchtfleisch mancher Traubensorten, wenn man die Schale ausquetschte. Dazu Leseprobe
Schlagzeile
Erscheint lt. Verlag am 17.08.2009