Beschreibung
Provoziert durch die Anfrage eines Journalisten erinnert sich Herma Warner an ihre Kinder- und Jugendzeit im Indonesien der zwanziger und dreißiger Jahre. Als Tochter von Holländern in Batavia (Djakarta) geboren, wuchs sie dort privilegiert auf, befreundete sich mit indonesischen Mädchen und Familien, interessierte sich für deren Lebensweise und Sprache. Dann, gerade erwachsen, muss sie erfahren, dass die politischen Verhältnisse Anfang der vierziger Jahre (das harte Kolonialregime, der wachsende Widerstand dagegen und die Radikalisierung ihrer indonesischen Freundinnen und Freunde) alles in Frage stellen, was sie bis dahin als ihre Heimat, ihre Identität und ihre große Liebe begriffen hatte. Dieser Zeit nähert sie sich im Rückblick, in Details und Momenten, die sich erst langsam zu einem Puzzle zusammensetzen. Im Augenblick des Erinnerns und angesichts vieler Rätsel, die sich dabei ergeben, wird ihr klar, mit welcher fast unverzeihlichen Naivität sie damals in ihrer Familie als Teil der Kolonialgesellschaft gelebt hat, wie wenig sie von ihren Eltern, ihrer engsten indonesischen Freundin und ihrem indonesischen Freund wusste - der dann später, nach dem Ende der Kolonialzeit, ihr Mann wurde.
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Autorenportrait
Hella S. Haasse, eine der bekanntesten und erfolgreichsten niederländischen Autorinnen der Gegenwart (dieses erstmals ins Deutsche übersetzte Buch hatte eine Auflage von 78.000 Ex.), wurde 1918 in Batavia geboren, ging 1940 zum Studium in die Niederlande und kehrte später öfter nach Indonesien zurück. Sie starb 2011 in Amsterdam. Das Original erschien bei Querido, Amsterdam.
Leseprobe
Sehr geehrte Frau Warner, mein Name ist Bart Moorland. Ich bin freiberuflicher Journalist und habe Soziologie und Politologie studiert. Zurzeit arbeite ich an einer Studie über westliche Aktivisten für Menschenrechte und Umweltschutz in Südostasien. Bei meinen Nachforschungen bin ich mehrfach auf den Namen Mila Wychinska gestoßen, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren eine wichtige Rolle als Verbindungsperson zwischen verschiedenen internationalen Organisationen und der Lokalbevölkerung gespielt haben soll, unter anderem in Indonesien und Malaysia. Viele Leute, die ich traf, wussten zwar von ihrer Existenz, sind ihr jedoch noch nie persönlich begegnet und hatten außer vagen und widersprüchlichen Geschichten eigentlich auch nichts zu melden. Manche behaupten, sie sei während einer Reise auf Sumatra (oder Java, oder Timor, das bleibt unklar) gestorben. Auch ihr Sterbedatum und die Todesumstände sind mir nicht bekannt. Als ich hörte, dass sie (trotz des meiner Ansicht nach polnischen Namens) niederländischer Herkunft war, habe ich natürlich versucht, hier in den Niederlanden Informationen über sie zu sammeln. Ich konnte lediglich herausfinden, dass sie aus Batavia stammte, im früheren Niederländisch-Indien, und noch lange auf Java oder anderswo in Indonesien gelebt hat, auch während der Herrschaft Soekarnos. Ich interessiere mich besonders für ihre Kindheit und Jugend in den Tropen, vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie sich offensichtlich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, in einer Zeit, als das kaum diskussionsreif war, als Verfechterin eines unabhängigen Indonesiens geäußert hat. Warum ich mich an Sie wende? Natürlich kenne ich Sie als Kunsthistorikerin. Mir ist auch die interessante Arbeit bekannt, die Sie bei der Restaurierung von Gebäuden aus der Zeit der Niederländischen Ostindien-Kompanie verrichtet haben. Aus diesem Grund spreche ich Sie mit dem Namen an, unter dem Ihre wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht wurden (Ihrem Mädchennamen Herma Warner), und nicht als Frau Tadema. Auch Sie sind im kolonialen Niederländisch-Indien geboren und aufgewachsen, in Batavia, und zudem sind Sie eine Altersgenossin von Mila Wychinska. Jemand erzählte mir, Sie hätten möglicherweise dieselbe Schule besucht. Auf erhaltenen Listen von Schülern der europäischen Schulen in Batavia vor dem Krieg habe ich Milas Namen nicht finden können, wohl Ihren und den Ihres Ehemannes. Kannten Sie Mila? Falls ja, täten Sie mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir gestatten, Ihnen einige Fragen zu stellen. Mit vorzüglicher Hochachtung B.J. Moorland *** Ohne diesen Brief hätte ich niemals damit angefangen. Ja, ich kannte sie, Adèle, Adé, Dee Mijers, die später wie ihre polnische Mutter Wychinska heißen wollte und aus Dee Mila machte, um alle holländischen und ostindischen Assoziationen aus ihrem Namen zu verbannen. Aber ich fürchte, was ich über sie erzählen könnte, wird diesem Journalisten nicht viel nützen. Ihr Leben, und auch meines, wurden von Umständen bestimmt, die ich als unwiderruflich überholt betrachte. Hat es Sinn, noch einmal aufzuwärmen, was niemand mehr nachvollziehen kann? Mir war schon lange klar, dass die versunkene Welt meiner Jugend zu einem großen Teil Illusion gewesen ist. Alle Stadien des Abschiednehmens und der Entwöhnung habe ich durchgemacht. Die sinnlichen und emotionalen Erlebnisse in meinem Geburtsland liegen auf dem Grund meines Bewusstseins begraben, sie bestimmen mich, aber ich kann nicht mehr auf sie zugreifen. Dass ich nirgends jemals ganz zu Hause war, habe ich als meinen natürlichen Daseinszustand akzeptiert. Das gibt mir Freiheit, und auch die Fähigkeit, mich anzupassen, oder gerade Abstand zu wahren, je nachdem, wie es passt. Dee betrachtete diese Eigenschaft - zu Unrecht - als typisch für den Belanda, der sich, wie sie mal sagte, wie ein Chamäleon verhalten kann, um sich die Umgebung, die er dominieren will, gefügig zu machen. Vielleicht hat sie später begriffen, dass es meine Art - und ihre! - war, mit der inneren Zerrissenheit zu leben, die uns beide ausmachte. Habe ich das Recht, Dee zu erklären? Kann ich das, ohne selbst eine Rolle zu spielen? Ich habe Angst vor der Zwiespältigkeit, der Doppelsinnigkeit, der Abwehr, die ich verspüre. Ich will mich der Bitte nicht stellen, die der Brief enthält, oder vielleicht doch? Moorland bauscht meinen Beitrag an den Restaurierungsarbeiten der Holzschnitzereien an den paar Häusern aus dem achtzehnten Jahrhundert in Jakarta viel zu sehr auf. Viel gab es da nicht mehr zu tun. Wie lange es gedauert hatte, bis die Niederlande Geld zur Verfügung gestellt und Indonesien das Angebot auch akzeptiert hatte. Für die Behörden in Jakarta hatte die Wiederherstellung kolonialer Antiquitäten selbstverständlich keine Priorität, außer, wenn diese im wirtschaftlichen und sozialen Leben der Stadt eine Funktion erfüllten. Aber was solls, Herr Moorland hat mir eben ein Kompliment machen wollen. Ich weiß nicht, ob ich ihn empfangen werde. Auch eine schriftliche Antwort bereitet mir Kopfzerbrechen. Hier, in meinem ländlichen, entlegenen Winkel, fühle ich mich wie aus der Zeit gefallen. Die alten Buchen und Kastanien auf dem Rasen vor diesem Haus, in dem einst meine Großeltern lebten, haben sich kaum verändert, seit ich als Kind in ihrem Schatten spielte während des einzigen Europa-Urlaubs meines Vaters, vor siebzig Jahren. Die schweren Baumstämme, die breit gefächerten Blätterkronen, geben mir ein ähnliches Gefühl für die Wirklichkeit wie das überwältigende Grün Javas, nämlich die Verbundenheit mit der Natur. Im Sommer verbringe ich bei gutem Wetter ganze Tage in meinem Gartenhaus mit Vordach und Veranda, versteckt zwischen dichten Bäumen. Genau wie zu Lebzeiten Tacos. Biwakieren im pondok nannten wir das. Dort spüre ich seine Anwesenheit wie sonst nirgends. So lebe ich auf meinen Tod zu, in Harmonie mit der unverständlichen Ordnung der Dinge. Bücher und Musik verstärken meine Ruhe. Ich verfolge die Nachrichten zwar, aber nehme sie mit einem Relativierungsvermögen auf, das mich oft erstaunt. Die Vergangenheit zieht sich in Nebeln zurück, und lässt sich nur aus der Gegenwart interpretieren, die ich ebenso wenig in ihrer wahren Gestalt sehen kann. Seit Tacos Tod, vor fast siebzehn Jahren, habe ich den Deckel der ebenhölzernen Kiste mit den Kupferbeschlägen, in der ich aufhebe, was ich noch immer Indien nenne, nicht mehr geöffnet. Irgendwann einmal wollte ich die Briefe, Unterlagen und Fotos vernichten. Jetzt könnten sie nützlich sein. Aber ich habe den Schlüssel verloren. Er hat eine auffällig abweichende Form. Die Zähne des Schlüsselbartes, der in das komplizierte antike Schloss passt, sind außergewöhnlich zackig, der ovalförmige Schlüsselkopf ist vergoldet und mit einem Ornament verschlungener Linien durchbrochen, das einem arabischen Schriftzug ähnelt. Ich muss diesen Schlüssel doch finden können. Tagelang habe ich mit Suchen verbracht, Schubladen leergeräumt, Kartons ausgeschüttet, verstaubte Regalbretter abgetastet. Das einzige Resultat war Verzweiflung über den ganzen Plunder, den ich im Laufe der Jahre angesammelt habe. Wie bekomme ich den Deckel auf? Er schließt nahtlos an den Kistenrand an. Ich werde Hilfe hinzuziehen müssen, einen Fachmann, einen Schlosser, der auf Feinarbeiten spezialisiert ist, falls es hier in der Gegend so jemanden gibt. Die Frage des Journalisten hat etwas ausgelöst, was mich nicht mehr ruhen lässt. Ich habe zwar keinen Zugang zum Inhalt meiner Kiste, aber jetzt ist es, als sei in meinem Gedächtnis ein Schloss aufgesprungen. Ich werde aufschreiben, was mir durch den Kopf geht. Wenn ich an Dee denke, sehe ich sie am liebsten vor mir, wie sie als Kind war: lebhaft, agil, gelenkig, und damals schon mit diesem funkelnden dunklen Blick, den viele Leute zu meinem Erstaunen frech und unberechenbar fanden. Ich war davon überzeugt, dass niemand sie so gut kannte wie ich. Also wusste ich, dass sie ungeduldig und fast körperlich unpässlich wurde, we...