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Warten auf Queneau

Hommage an die 'Stilübungen'

Erschienen am 30.09.2024
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783866383227
Sprache: Deutsch
Umfang: 160 S.
Format (T/L/B): 1.2 x 22 x 13.6 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Ein banaler Vorfall ereignet sich in einem Pariser Bus, um einen Knopf und einen Hut geht es, aus dem plötzlich unzählige Minigeschichten herausgezaubert und in den verschiedensten Textformen entfaltet werden. Dies schaffte vor über 70 Jahren der französische Schriftsteller Raymond Queneau mit seinen 'Stilübungen' - und Hans-Jürgen Lenhart schreibt dieses Pariser Abenteuer 100fach schwungvoll und vergnüglich fort.

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Axel Dielmann Verlag KG
neugier@dielmann-verlag.de
Donnersbergstr. 12
DE 60528 Frankfurt am Main

Leseprobe

Eines Tages saß ich zur Hauptverkehrszeit im Autobus der Linie S. Mir war auf merkwürdige Weise nicht wohl, ich fasste mir immer wieder an meinen Hals, der mir plötzlich viel länger vorkam als sonst. Dennoch täuschte ich mich. Irgendetwas stimmte danach auch nicht mit meiner Mütze. Die saß äußerst fest, wie mit einer Kordel angezogen und fast so steif wie ein Helm. Doch als ich sie abtastete, fühlte sie sich wieder normal an. Dann rempelte mich ständig mein Sitznachbar an und tat so, als wäre er selbst gestoßen worden. Er deutete dazu in die Gegend, aber auf - nichts. Ich dachte, er wolle mich foppen und beschwerte mich. Er machte jedoch weiter, so dass ich wütend und inzwischen recht beunruhigt auf einen leeren Platz flüchtete. Zwei Stunden später wollte ich mich mit einem Kameraden an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-Lazare treffen. Stattdessen erschien wieder der Typ aus dem Bus. Er preschte auf mich zu und rief ungefragt: 'Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen.' Er zeigte mir zwar wo, doch war ich inzwischen völlig verwirrt: Ich hatte gar keinen Überzieher an! Dann verschwand der Kerl wie er gekommen war. Gespenstisch! So ein seltsames Erlebnis vergisst man nicht so schnell, und es drängte mich, es aufzuschreiben. Vielleicht klärte sich dann einiges. Ich schrieb, überlegte, schrieb noch einmal, schrieb immer wieder und entwickelte darüber einen ungeheuren Drang, diese merkwürdige Begegnung ständig neu zu erzählen und zu Papier zu brin­gen. Schwülstig, verschachtelt, als Whats-App-Nachricht, stark verfremdet, als Kreuzworträtsel, in Morsezeichen, auf Hessisch, als Kinderlied, als Gedicht. Nach einiger Zeit spielte ich sie sogar spontan als Theaterszene, sang sie als Opernarie oder rappte sie zu Breakbeats. Ich konnte einfach nicht aufhören. Und dann geschah es. Eines Tages fuhr ich wieder im Autobus der Linie S zur Hauptverkehrszeit. Da saß der Mensch, der mich mit dieser Schreiberei infiziert hatte, erneut im Bus. Diesmal musste ich herausfinden, wer das sei. Ich griff ihn am Ausschnitt seines Überziehers und zwang ihn auszupacken. Er stellte sich als ein gewisser Raymond Queneau vor, Schriftsteller aus Frankreich. Er sei aber schon verstorben. Und zwar 1976. Ich antwortete, das könne nicht sein. Er stünde doch vor mir und spräche mit mir. Daraufhin lachte er und meinte, er sei zwar tot, aber das sei unwichtig, denn er sei längst unsterblich. Dann verriet er mir, er hätte ebenfalls ein solches Erlebnis auf dieser Buslinie S gehabt und es niedergeschrieben. Auch er spürte damals den unbedingten Drang, es immer wieder anders zu formulieren und machte sogar 1947 ein Buch daraus. Stilübungen nannte er es. Aber niemand wollte es anfangs veröffentlichen. Lediglich ein paar Zeitschriften, die der Résistance nahestanden, nahmen ihm einige seiner Stilübungen ab, weil er damals mit einem dieser Texte die Amtssprache der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg lächerlich machte. Die Redakteure hätten sich den Bauch vor Lachen gehalten. Für die 'Stilübungen' begann danach ein Siegeszug in der französischen und europäischen Literatur. Sie wurde zur Ikone aller Dichter und Leser, die Freude an der Sprache haben und sich für literarische Experimente begeistern. Plötzlich sprang er auf, und ich sah, wir kamen gerade an der Cour de Rome an. Er wolle sich mit einer alten Freundin namens Zazie vor der Metro treffen. Ich rief ihm noch zu, die Metro streike derzeit, aber da war er schon verschwunden. Jedoch hatte er mir im letzten Moment einen Knopf in die Hand gedrückt, der ihm wohl durch mein Zupacken von seinem alten Überzieher abgegangen war. Da stand ich nun und starrte verdutzt und ratlos auf den Knopf. Langsam sah ich klarer: Ich sollte weiterschreiben! Immer weiterschreiben! Stilübungen - was sonst?

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