Beschreibung
In neun neuen Geschichten erzählt Annie Proulx von den Mythen und Menschen Wyomings - lakonischer, böser und witziger denn je Wyoming, dieser am dünnsten besiedelte aller nordamerikanischen Staaten, ist Annie Proulx' Revier. Und sie schreibt über diese unwirtliche, bizarr-schöne Gegend wie niemand sonst, voller Sympathie und Ironie. Erinnerungen eines alten Mannes an seine Zeit als Rodeoreiter enthüllen familiäre Abgründe; eine große tragische Liebesgeschichte aus dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert zerreißt einem schier das Herz; bitterböse Satiren schauen dem Teufel und seinem Sekretär bei der Arbeit zu; Legenden erzählen von der Zeit, als die Indianer noch allein in den Bergen und Prärien lebten, ganz anders als heute, da Millionäre, Grundstücksmakler, moderne Hippies und sture Farmer ihr Glück im Land der Pioniere suchen.
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Leseprobe
Mellowhorn Home war ein weiträumiges einstöckiges Blockhaus im sogenannten Westernstil - "indianisch" geometrisch gemusterte Möbelbezüge und mit Wildlederfransen herausgeputzte Lampenschirme. An den Wänden hingen Mr. Mellowhorns präparierte Maultierhirschköpfe und eine Zweimannschrotsäge. Zu dieser Jahreszeit wurde Berenice Pann bewusst, dass die Erde der Dunkelheit entgegenging; keine gute Zeit, dachte sie sich, um eine neue Stelle anzutreten, vor allem eine so deprimierende Stelle wie die, sich um alte Rancherwitwen zu kümmern. Aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte. Im Mellowhorn-Altersheim waren Männer rar und bei den Frauen so gefragt, dass sie Berenice leidtaten. Sie hatte gedacht, der Sexualtrieb lasse im Alter nach, doch die alten Krähen kämpften um die Aufmerksamkeit paralysierter Opas mit wabbeligen, zitternden Armen. Die Männer hatten die Wahl zwischen formlosen Morgenmänteln und geblümten Vogelscheuchen. Drei verstorbene und ausgestopfte Mellowhorn-Hunde waren an strategischen Wachpositionen aufgestellt: nahe der Eingangstür, am Fuß der Treppe und neben der rustikalen Bar aus alten Zaunpfosten. Auf Schildchen waren wie zum Beweis der Kunstfertigkeit des Brandmalers ihre Namen verewigt: Joker, Bugs und Henry. Wenigstens, dachte Berenice, die Henry den Kopf tätschelte, hatte man von dem Heim aus einen Blick auf die Berge ringsum. Es hatte den ganzen Tag geregnet, und in der sich verdichtenden Dämmerung sahen die Bartgrasbüschel wie gebleichtes Haar aus. An einem alten Bewässerungsgraben bildeten Weiden eine unregelmäßige Linie in düsterem Dunkelbraun, und der Viehteich am Fuß des Hügels war so glatt wie Zink. Berenice trat an ein anderes Fenster, um zu sehen, welches Wetter bevorstand. Im Nordwesten trieb ein milchig weißer, frostiger Keil am Himmel Regen vor sich her. An dem Fenster des Gemeinschaftsraums saß ein alter Mann und starrte in das graue Herbstwetter hinaus. Berenice wusste seinen Namen, wie sie die Namen aller Heimbewohner wusste: Ray Forkenbrock. "Kann ich was für Sie tun, Mr. Forkenbrock?" Sie hielt sich etwas darauf zugute, die Heiminsassen mit den entsprechenden Ehrentiteln anzusprechen, was die übrige Belegschaft nicht tat, die mit Vornamen um sich warf, als hätten sie mit den alten Leuten Säue gehütet. Deb Slaver war geradezu maßlos anbiedernd mit ihrem verschwenderischen Gebrauch von "Sammy", "Rita" und "Delia", interpungiert mit "Schatzi", "Herzchen" und "Putzi". "Klar", sagte er. Er machte lange Pausen zwischen den Sätzen, fügte die Wörter so bedächtig aneinander, dass Berenice ihm am liebsten mit Vorschlägen auf die Sprünge geholfen hätte. "Bringen Sie mich hier raus", sagte er. "Geben Sie mir ein Pferd", sagte er. "Machen Sie mich siebzig Jahre jünger", sagte Mr. Forkenbrock. "Das kann ich leider nicht, aber ich kann Ihnen eine schöne Tasse Tee holen. Und in zehn Minuten ist Gemeinschaftsstunde", sagte sie. Sein Blick war schwer zu ertragen. Trotz des gewöhnlichen Gesichts mit den eingefallenen Lippen und dem faltigen Hals bot er einen ungewöhnlichen Anblick. Es lag an den Augen. Sie waren sehr groß, weit geöffnet und von hellstem Hellblau, der Farbe von Eissplittern, einem unmerklichen Blau mit Kristallstrahlen. Auf Fotos waren sie so weiß wie die Augen römischer Statuen, sah man von dem starren Blick der kleinen, dunklen Pupillen ab. Wenn er einen ansah, dachte Berenice, vergaß man darauf zu achten, was er sagte, weil man von den sonderbaren weißen Augen so fasziniert war. Sie mochte ihn nicht, tat aber so. Frauen mussten so tun, als hätten sie Männer gern und bewunderten, was sie taten. Ihre eigene Schwester hatte einen Mann geheiratet, der sich für Felsgestein interessierte, und musste sich jetzt mit ihm durch Wüsten und steile Berge hinauf quälen. Zur Gemeinschaftsstunde gab es für die Heimbewohner Drinks und Cracker mit Käsecreme aus dem Super-Wal-Mart, wo die Köchin einkaufte. Sie waren durch die Bank Schnapsdrosseln, mit besonderer Vorliebe für die Whiskeyflasche. Chau Leseprobe