Beschreibung
Von Kleinkindern wissen wir es schon lange: Sie leben stark in Phantasiewelten und nehmen die Wirklichkeit um sich herum zunächst kaum wahr. Und wir Erwachsenen? Bei uns ist das gar nicht so viel anders. Dieser Aufenthalt in zwei Realitätswelten ist für uns Erwachsene sogar eine Notwendigkeit, behauptet der Autor, denn nur der Wechsel in eine Nebenrealität, in eine Welt kindlichen Denkens, bietet uns die Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und neue Kräfte zu sammeln. Nur dort kann sich menschliche Kreativität voll entfalten, konnten einige der größten Kunstwerke der Welt entstehen. Was derart zum Segen für den Menschen ist, kann aber nur zu leicht auch zum Fluch werden. Was passiert, wenn der Überstieg in das wirkliche Leben nicht mehr gelingt? Große Künstler wie der späte Hölderlin, Tyrannen wie Nero oder Hitler blieben in der Nebenrealität verhaftet und haben den Kontakt zum wirklichen Leben gänzlich verloren. Immer dann, wenn dieser Umstieg zwischen den beiden Realitäten nicht mehr funktioniert, besteht die Gefahr des Schizophrenen. Das Normale, das Gesunde und das Krankhafte liegen, wie so oft im Leben, nicht weit auseinander.
Autorenportrait
Reinhart Lempp, Prof. Dr. med., Dr. paed. h. c., war Direktor der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Tübingen. Er ist seit Jahren einem breiten Lesepublikum bekannt durch Sachbücher, z.B. bei Kösel, Fachbuchpublikationen, z.B. bei Springer und Hans Huber, und durch humorvolle Ratgeber, u. a. Eltern für Anfänger (mit Loriot) bei Diogenes.
Leseprobe
Das Prinzip Regression Es läßt sich also feststellen, daß die Regression, das heißt die Fähigkeit des Menschen, sich psychisch, im Denken, Phantasieren und Wünschen und in seinem Verhalten auf frühere Denk- und Erlebnisformen zu besinnen und zurückzuziehen, keine pathologische, also keine quasi von der Natur und der sogenannten normalen Entwicklung vorgesehene Möglichkeit ist, sondern vielmehr der menschlichen Psyche natürlicherweise innewohnt. Die Fähigkeit zur Regression ist für den Menschen ein allgemeines psychisches Prinzip, das für seine psychische Gesundheit und seine Fähigkeit, seelische Belastungen auszuhalten, eminent wichtig ist. Die Voraussetzungen der Regression Wir können davon ausgehen, daß sich jeder Mensch, bewußt und vor allem auch unbewußt, an frühkindliche Erfahrungen "erinnert". Für negative Erfahrungen, für frühkindlich erfahrene Traumen, vor allem, wenn sie andauernd oder wiederholt und gleichgerichtet waren, wissen wir dies seit Sigmund Freud. Es wurde seither vielfach nachgewiesen, zuletzt durch die bitteren Erfahrungen des Holocaust (Keilson 1979; Lempp 1979, 2001b). Es besteht aber kein Grund, dies für anhaltend positive und angenehm empfundene Erfahrungen nicht ebenso anzunehmen. Das heißt, daß die Erfahrung und die Erinnerung an eine Lebenszeit, in der sich das Individuum optimal sicher und geschützt erlebte, die Zeit der Schwangerschaft und - bei uns wohl auch für die Mehrzahl der Menschen - die Zeit der Säuglings- und der ersten Kleinkindzeit, als es noch auf Hilfe bei Ernährung und Pflege angewiesen war, jedem Menschen zu eigen ist. Das heißt aber auch, daß diese Erinnerung in ihm in Zeiten, in denen er sich unsicher, bedroht und existentiell gefährdet fühlt, die Sehnsucht nach der frühen Zeit absoluter Geborgenheit wachrufen kann. Er kann sich wünschen, diese Situation wiederherzustellen, zumindest in Gedanken, in der Nebenrealität, mit dem gleichzeitigen Bestreben, diese Nebenrealität möglichst konkret zu machen, so, wie sie für ihn in seiner Kinderzeit gleichwertig war mit der Hauptrealität. Die Entwicklung des Ich-Bewußtseins beim Kinde führt dann auch zur unbewußten Erkenntnis, daß diese Zeit absoluten Geborgenseins, die Zeit der Symbiose mit der Mutter vorüber ist, und es erlebt sich - zumindest immer wieder einmal - weniger sicher, ungeschützt und erkennt allmählich seine Selbstverantwortlichkeit. Mit der Überwindung des physiologischen Egozentrismus wächst das Empfinden für andere, die Empathie und auch die Verpflichtung zur Solidarität, jeweils abhängig von den Prägungen, die der Mensch von seiner Umwelt erfährt. Wenn ein Kind, das bisher als Jüngstes der Familie die besondere Zuwendung der Eltern erfuhr, erlebt, daß ein jüngeres Geschwister es aus dieser Position verdrängt, kann es sein, daß es sich wieder wie dieses verhalten möchte und - nur spielerisch - in den Kinderwagen drängt oder gar wieder einzunässen beginnt wie das Kleinkind: Es ist eifersüchtig, es regrediert. Dieses ubiquitäre Erlebnis, das auch unabhängig von der Geschwisterrivalität in vergleichbaren Situationen entstehen kann, bildet wohl die Basis für jede Eifersucht, die den Menschen als Jugendlicher und Erwachsener mit und ohne Anlaß befallen kann. So ist auch Eifersucht eine Äußerungsform einer Regression.
Schlagzeile
Häufiger als wir denken, pendeln wir zwischen Phantasiewelten und der Realität hin und her.