Beschreibung
Die von Deutschen im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen wären nicht möglich gewesen ohne die Existenz eines Geflechts von geteilten ethischen Überzeugungen. "Dichte" Begriffe wie "Arbeit", "Volk" oder "Gemeinschaft" sind Knotenpunkte dieses gedanklichen Gebildes. In den Beiträgen dieses Bandes geht es nicht nur darum, nationalsozialistische Normativität historisch darzustellen. Vielmehr werden auch Vorschläge zur Analyse dieser Begriffe gemacht. Ein wesentlicher Teil dieses Bemühens ist die Untersuchung von Ethiken nationalsozialistisch orientierter Philosophen.
Autorenportrait
Apl. Prof. Dr. Werner Konitzer ist kommissarischer Direktor des Fritz Bauer Instituts. David Palme hat in Marburg und Frankfurt am Main Philosophie und Geschichte studiert; er arbeitet zum Themenbereich Moral und Nationalsozialismus.
Leseprobe
Vorwort
Die Grundlage für das vorliegende Jahrbuch bildete die Konferenz "NS-Moral: Eine vorläufige Bilanz", die vom 16. bis 19. September 2015 im Martin-Niemöller-Haus in Arnoldshain stattfand. Als wir Anfang desselben Jahres zu der Konferenz einluden, rechneten wir nicht damit, am Ende ein so dichtes Programm präsentieren zu können. Wir beschlossen, die Diskussion über nationalsozialistische Ethiken zum Schwerpunkt der Konferenz zu machen. Denn die Betrachtung der von Nationalsozialisten verfassten Ethiken, ein nach unserer Meinung für das Forschungsprojekt sehr wichtiger Aspekt, war bis dahin noch weitgehend unberücksichtigt geblieben. Angesichts der überraschenden Breite der Beiträge sahen wir uns auf der Konferenz allerdings nicht in der Lage zu einer - auch nur vorläufigen - Bilanz der Diskussion. Mit diesem Jahrbuch möchten wir nun nicht etwa nachträglich einen Schlussstrich ziehen, sondern hoffen, die Diskussion damit erneut entfachen und verbreitern zu können.
Alle Beiträge, mit Ausnahme des Artikels von Michael Schefczyk und Uri Kuchinsky, basieren auf Vorträgen, die auf der Konferenz gehalten wurden. Den Kern der hier zusammengestellten Studien bilden die Untersuchungen zu den Ethiken einiger mehr oder weniger deutlich nationalsozialistisch orientierter Philosophen. So diskutiert Johannes Steizinger die Ethik von Alfred Baeumler, Johanna Bach die von Bruno Bauch, David Palme die von August Faust, und Michael Schefczyk und Uri Kuchinsky setzen sich mit den Schriften von Nicolai Hartmann auseinander. Bei allen vier untersuchten Autoren handelt es sich dem Selbstverständnis nach um Moralphilosophen.
Johannes Steizinger stellt das umfassende Werk des Philosophen und Pädagogen Alfred Baeumler dar, der als einer der wichtigsten Intellektuellen des "Dritten Reichs" gelten kann. Unter Rückgriff auf Foucault versucht Steizinger zu zeigen, wie Wissenschaftlichkeit und Reflexion in und durch Baeumlers Denken verdrängt werden. Die Suche nach Wahrheit lasse sich nämlich laut Baeumler nur parteiisch betreiben, das heißt abhängig vom historischen, kulturellen und "rassischen" Standpunkt. Jeder Universalität werde so eine Absage erteilt.
Die Nähe von Parteiideologie und akademischer Philosophie wird auch in Johanna Bachs Beitrag über das Narrativ "sittlicher Arbeit" deutlich. Statt sich jedoch einer Person zu widmen, die beides in sich vereint, zeigt sie die Parallelen zwischen dem Stellenwert von "Arbeit" für die Moralphilosophie, etwa des Neukantianers Bruno Bauch, und den Reden und Schriften Adolf Hitlers. Arbeit, darin stimmen Bauch und Hitler überein, sei die deutscheste und ethischste Tätigkeit, bei der die Wirklichkeit nach Wertmaßstäben gestaltet werde.
Ein anderes Schlaglicht wirft David Palmes Untersuchung zur Philosophie August Fausts auf die NS-Moral. Faust forderte eine "radikale Freiheit der Selbstbehauptung", welche Palme in den Zusammenhang einer "Krise der Moral" stellt. Diese Krise habe sich seit der Aufklärung entwickelt, und der Nationalsozialismus könne als Antwort darauf verstanden werden.
Die drei behandelten Autoren verstanden sich selbst eindeutig als Nationalsozialisten. Anders verhält sich dies bei Nicolai Hartmann. Entsprechend widmen sich Michael Schefczyk und Uri Kuchinsky ausführlich der kontroversen Frage nach seiner Einordnung und gehen den Gründen dafür nach, warum ausgerechnet Hartmann 1934 den ersten philosophischen Kongress nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten eröffnete.
Weitere Einzelbetrachtungen, wenn auch nicht direkt zu Ethiken, liefern Emanuel Kapfinger und Steffen Kluck. Kapfinger unternimmt anhand von Martin Heideggers Sein und Zeit eine Analyse der nationalsozialistischen Subjektivität. Dabei wendet er sich gegen die Ansicht von Emmanuel Faye, dass Heidegger kein (moral-)philosophisches Projekt verfolge. Heidegger, so Kapfinger, fordere in Sein und Zeit eine spezifische Form der Selbstaufgabe des Individuums, die sich durchaus als moralischer Imperativ verstehen lasse.
Mit den normativen Aspekten im Verhältnis von Individuum, Person und Gemeinschaft beschäftigt sich auch Steffen Kluck in seinem Beitrag über "Transpersonalismus". Im Fokus steht dabei der neuhegelianische Rechtsphilosoph Julius Binder und seine Kritik am Rechtspositivismus. Unter "Transpersonalismus" ist die Forderung nach einer Auflösung des Einzelnen in der Gemeinschaft des Staates zu verstehen, ohne dass der Einzelne sich einfach unterwirft. Kluck sieht den Nationalsozialismus als gescheiterten Versuch an, eine solche Auflösung zu realisieren.
Rastko Jovanov setzt sich in seinem Artikel zur "Rechtserneuerung im Nationalsozialismus" ebenfalls mit dem nationalsozialistischen Neuhegelianismus auseinander. Er untersucht, wie die Bedeutung des "Volks" für den Staat in der Interpretation der Hegel'schen Rechtsphilosophie durch Julius Binder und Karl Larenz überhöht wird. Das "Volk" tritt hier an die Stelle der "Freiheit" und wird so zur Recht legitimierenden Autorität. Jovanov hält dies zwar für eine Fehlinterpretation Hegels, merkt aber gleichzeitig an, dass sich von einem rein hegelianischen Standpunkt kaum etwas dagegenhalten lasse.
Eher allgemeinen Charakter haben die Beiträge von Volker Böhnigk, Johann Chapoutot und Werner Konitzer. Chapoutot versucht einen Überblick über die Gesamtgestalt der NS-Normativität zu geben und fasst diese unter anderem in den Imperativen "Kinder zeugen, kämpfen und herrschen" zusammen. Er stützt sich dabei nicht nur auf philosophische Texte, sondern auch auf Alltagsbeschreibungen und Biographien. Der Nationalsozialismus verstand sich nach Chapoutot als Kulturkritik im Namen einer vermeintlichen Natur, der es wieder zu ihrem Recht zu verhelfen gelte. WernerKonitzer zeigt in seinem Beitrag über frühe Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischer Ethik, dass die Geschichte der Diskussion über nationalsozialistische Moral nicht von der Wirkungsgeschichte des Holocaust abzutrennen ist. Volker Böhnigk fragt nach der Beziehung zwischen Relativismus und Nationalsozialismus. Er zweifelt die geläufige Behauptung an, dass es sich beim Nationalsozialismus um einen moralischen Relativismus handle, der im Gegensatz zum aufklärerischen Universalismus stehe. Böhnigk behandelt dies vor allem in Bezug auf den nationalsozialistischen Begriff der "Rasse".
Zwar war es unsere Absicht, auf der Konferenz die oben beschriebene philosophische Perspektive auf die NS-Moral zu diskutieren, wir wollten aber den Zusammenhang mit der historisch-faktischen Bewegung des Nationalsozialismus nicht ausblenden. Deshalb haben wir auch Beiträge aufgenommen, die über die Diskussion der Ethiken hinausgehen. So fragt Christian Dries, ob Hannah Arendts Beschreibung von Adolf Eichmann als "unfähig zu denken" auch vor dem Hintergrund der neueren Täterforschung und der Ansätze zur NS-Moral noch Gültigkeit beanspruchen kann. Am Beispiel von Hans Frank, dem Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, versucht Dries zu zeigen, dass Nationalsozialisten sehr wohl des Denkens fähig waren. Dabei berührt er das Problem, dass NS-Täter bis heute oft entweder als bloße "Rädchen im Getriebe" oder als irrationale Fanatiker gesehen werden.
Auf problematische Bilder des Nationalsozialismus weist auch Ljiljana Radoni? hin. Sie schreibt über die Widersprüche sowohl in der Rezeption als auch in der Selbstdarstellung des "Dritten Reichs", was das Geschlechterverhältnis und die Sexualität im Nationalsozialismus angeht. So lässt sich das NS-Frauenbild keineswegs auf die keusche Mutter reduzieren. Im Gegenteil bedeutete der Nationalsozialismus für viele deutsche Frauen eine sexuelle und soziale Befreiung, die mit dem Kriegsende zunächst wieder zurückgenommen wurde. Diese Rückkehr zur alten Sexual"moral" war in gewisser Weise ein expliziter Bruch der Nachkriegsgesellschaft mit dem Nationalsozialismus.
Nikolas Lelle zeigt in seinem Beitrag über Reinhard Höhn und dessen Managementprogramm, das sogenannte "Harzburger Modell", Kontinuitäten auf. So war unter diesem Titel, mit leichten Modifikationen, das Führerprinzip in deutschen Unternehmen auch nach dem Krieg erfolgreich und verbreitet. Lelle stellt ähnlich wie Dries heraus, dass es sich dabei nicht um die Forderung nach blindem Gehorsam handelte, sondern um eine besondere Form des eigenverantwortlichen Handelns, das heißt Arbeitens für die "Gemeinschaft".
Das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft betrachtet auch Bernd Kleinhans in seinem Artikel "Erziehung zur Volksgemeinschaft". Statt philosophischer Texte analysiert Kleinhans allerdings NS-Jugendspielfilme. Erstaunlicherweise blendeten diese Filme Individualismus und Rebellion nicht aus, sondern integrierten sie in ihre Initiationsgeschichten. An deren Ende stand der freudige Dienst für das deutsche Volk und den Krieg. Die Filme spiegelten dabei eindrücklich wider, was an anderer Stelle in den Ethiken gefordert wurde.
Wir danken an dieser Stelle allen Autorinnen und Autoren sowie der Evangelischen Akademie Frankfurt und namentlich Dr.?Christopher Scholtz für die erfreuliche Kooperation im Zuge der Konferenz, vor allem aber auch Johanna Bach für ihre unermüdliche Mitarbeit im Projekt. Allesamt sind wir zudem dem Lektorat von Sabine Grimm verpflichtet, ohne das dieses Jahrbuch nicht fertig geworden wäre.
Frankfurt am Main, Juli 2016
Werner Konitzer
David Palme
Zur Einführung
Eine nationalsozialistische Normativität?
Über den Sinn und die Werte des Nationalsozialismus
Johann Chapoutot
1.
Von einer "nationalsozialistischen Moral" zu sprechen wäre vor zehn Jahren noch fast unmöglich gewesen. Im besten Fall hätte man es als Oxymoron, im schlimmsten als eine Beleidigung für die Opfer der kriminellsten, grausamsten und unmenschlichsten Diktatur der Geschichte verstanden. Es ist dem Fritz Bauer Institut zu verdanken, vor allem Raphael Gross und Werner Konitzer, einem Historiker und einem Philosophen, dass dieses Thema in der Forschung Fuß gefasst hat. Nachdem Claudia Koonz 2003 ein Buch mit dem Titel The Nazi Conscience veröffentlicht hatte, erschienen der von Konitzer und Gross herausgegebene Sammelband Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen und das Buch Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral von Raphael Gross. Parallel dazu verfasste Wolfgang Bialas ein Buch zum selben Thema, und ich schrieb in Frankreich an meiner Habilitationsschrift über die "nationalsozialistische Normativität" oder die "normative Kultur des Nationalsozialismus".
Wenn man von einer "normativen Kultur" der NS-Zeit spricht, läuft man Gefahr, auf zwei Einwände zu stoßen. Zuerst scheinen Nationalsozialismus und Kultur wenig miteinander gemeinsam zu haben. Man kennt den apokryphen Satz von Goebbels, er würde zu seiner Browning greifen, wenn er das Wort Kultur höre. Man denkt an die Bücherverbrennungen und den grundlegenden Antiintellektualismus der NS-Größen, die, abgesehen von Goebbels, nie eine Universität betreten hatten. Wenn man diese Überlegungen allzu sehr verallgemeinert, ist es aber durchaus möglich, dass man etwas übersieht, was für den Nationalsozialismus und seinen weltweiten Erfolg von großer Bedeutung ist: Es gab überzeugte Nationalsozialisten auch unter Intellektuellen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und anderen Ländern, die dieser "Weltanschauung" zugeneigt waren, und das nicht nur, weil "wir die Haare kurzgeschnitten haben" (Hitler), sondern weil es manchmal unter diesem kurzen Haarschnitt durchaus auch ein Hirn gab, das Antworten auf die Fragen der Zeitgenossen zu geben schien.
Zweiter Einwand: Man spricht hier von "Normen". Es klingt paradox. Die fast grenzenlose Gewalt, der die Opfer des NS-Reiches innerhalb und außerhalb Deutschlands ausgesetzt waren, erscheint uns heute nämlich als eine regelrechte (regellose!) Abnormität. Die NS-Epoche sei also eine Zeit der Normlosigkeit, der ungezügelten Gewalt gewesen. Man ist seit den 1940er Jahren so sprach- und ratlos in Anbetracht der NS-Verbrechen, dass man diese Taten nur "erklären" kann (wohlgemerkt: erklären, nicht verstehen), wenn man sagt: Die Un-Menschlichkeit dieser Taten ist darauf zurückzuführen, dass diese Menschen gleichsam außerhalb der Menschheit standen. Purer Wahnsinn oder nackte Barbarei seien die Gründe für die Un-Taten dieser Un-Menschen.
Dazu ein paar Bemerkungen. Erstens arbeitet und denkt ein Historiker anders als ein Zoologe oder ein Psychiater. Historiker gehen davon aus, dass sie es mit Menschen zu tun haben, die ihren Taten Sinn und Wert beigemessen haben und nicht jeden Morgen mit der Überzeugung aufgestanden sind, sie seien Verbrecher. Was man an den vielen Orten der Vernichtung tat, wurde zweifellos irgendwie als "schwer" oder "hart" empfunden, aber zugleich als "notwendig", so dass das eigene Tun dann insgesamt als "edel" aufgefasst wurde, wie es Heinrich Himmler in seinen berühmten "Posener Reden" zum Ausdruck brachte. Das können wir heute zum Glück nicht nachvollziehen. Aber Historiker sollten sich bemühen, den Kontext, in dem menschliche Handlungen vollzogen wurden, zu verstehen - so wie etwa Michel Pastoureau das tut, wenn er den Kontext, in dem mittelalterliche Prozesse gegen Tiere ihren Sinn bekamen, zu rekonstruieren versucht. Wenn wir von diesen Geschichten hören, lachen wir. Allein die Zeitgenossen lachten in der Regel nicht.
Zweitens: Die Historiker haben schon lange gezeigt, dass der NS-Staatsapparat nicht nur aus kurzhaarigen Rowdies bestand, sondern eine Menge junger Akademiker in ihm mitwirkte, jene "Generation des Unbedingten", die Michael Wildt in seiner Habilitationsschrift untersucht und dargestellt hat. Es waren junge Juristen, oft mit dem Doktortitel geadelt, die organisiert, gedacht, geplant und kontrolliert haben - "Architekten der Endlösung" haben Susanne Heim und Götz Aly sie genannt. Sie agierten nicht nur bequem von ihrem Schreibtisch in der Prinz-Albrecht-Straße oder von Berlin-Dahlem aus (wo sich viele SS-Ämter befanden), sondern auch vor Ort, beim "Osteinsatz" zum Beispiel. Diese jungen Eliten arbeiteten durchaus mit alten oder älteren Eliten zusammen; man denke nur an die Mediziner, die Anthropologen, die "Rassenkundler" und andere ehrwürdige Vertreter der Wissenschaften, von den wirtschaftlichen Eliten ganz zu schweigen. Wenige hatten an den NS-Plänen für die "Ostarbeiter", für die "Fremdvölker", für das künftige Reich in der Ukraine usw. etwas auszusetzen. Für die einen eröffneten sich hier unbegrenzte Möglichkeiten, an Geld zu gelangen, und für die anderen - ich denke etwa an die Mediziner, "Rassenkundler", "Rassenhygieniker" - gab es endlich die Möglichkeit, die eigenen Ideen in Deutschland umzusetzen. Deutschland, so meinten sie, lag im Vergleich zum Beispiel zu vielen Staaten der USA in Bezug auf Rassenhygiene und Eugenik zurück. Dasselbe gilt etwa auch für die Raumplaner und Geographen - man denke nur an Walter Christaller, seinerzeit SPD-Mitglied, Exilant und dann Chefplaner für die "wiedergewonnenen Gebiete" im ehemaligen Kongresspolen, für die Reichsgaue Wartheland und Danzig-Westpreußen. Diese Wissenschaftler sahen im Nationalsozialismus die einmalige Gelegenheit, Denker und Tatmenschen zugleich zu sein. Da hat eine gewisse Hybris mitgespielt. Wie das Beispiel Christaller zeigt, war es offenbar ausgesprochen verlockend, Karriere und Geld zu machen, anerkannt zu sein und gleichzeitig an einem "historischen" Vorhaben mitzuwirken.
Soll man sich darüber wundern? Viele fragen jetzt: Um Gottes Willen, wie war es nur möglich, dass Wissenschaftler mitgewirkt haben? Wichtig ist dabei zu verstehen, dass die Ideen der Nationalsozialisten nicht einfach nur nationalsozialistische Ideen waren, sondern dass sie zum Gemeingut der damaligen deutschen, aber auch westeuropäischen, ja abendländischen (bezieht man Nordamerika mit ein) Eliten, wenn nicht Gesellschaften gehörten: Antisemitismus, Rassismus, Kolonialismus, Kapitalismus, Imperialismus, "Rassenhygiene" und Sozialdarwinismus waren auch in den USA, in Großbritannien und Frankreich stark verbreitet, und zwar bis in linke Kreise hinein oder bis zu humanistisch gesinnten, moderaten Radikalsozialisten wie einem Édouard Herriot, der ganz sachlich erwog, ob man den Insassen wohl weniger zu essen geben könnte, um in psychiatrischen Anstalten zu sparen. Diese Ismen hatten schon vor den 1930er Jahren Konjunktur, weil sie in den genannten Ländern die Theorie zu einer Praxis lieferten: dem Kolonialreich auf dem Kontinent (USA) oder in Übersee (Frankreich, Großbritannien), das auf dem Rassismus als Wissenschaft beruhte, oder bestimmten Formen des Kapitalismus, um deren ethisch-philosophische Rechtfertigung sich sozialdarwinistische Theorien bemühten.
Wir haben es also nicht nur mit NS-Parolen, Plänen, Projekten und Taten, sondern auch wirklich mit Normen zu tun, das heißt mit Diskursen, die Handlungen vorschrieben und diese Vorschriften rechtfertigten. Und diese Normen waren nicht nur eine deutsche Ausnahme. Sie hatten keineswegs nur die Form von kurzen Befehlen aus geschrienen Parolen - kurze Haare und Schreie gehörten zur Folklore des NS. Man muss tiefer blicken, hinein in den dunklen Kontinent einer umfangreichen und weitverzweigten NS-Literatur.
Es ist in der Tat vor und während der NS-Zeit viel zum Thema Normen geschrieben worden: in der Presse und an den Universitäten; Bücher, Artikel, Pamphlete, Gedichte. Man hat Filme gedreht, in denen es um diese Normen ging. Und man hat argumentiert. Juristen, Historiker, Biologen, Philosophen, aber auch weniger wissenschaftliche Wortführer des Nationalsozialismus haben viel geredet und geschrieben, um zu erklären, dass die überkommenen Normen falsch, ungesund und gefährlich seien und man daher eine normative Revolution durchführen müsse, wenn man die eigene "Rasse" retten wolle.
Viel heißt hier wirklich viel. Als ich meinem Verleger Marcel Gauchet erzählte, ich hätte für mein Buch über nationalsozialistische Wertvorstellungen an die 100.000 Seiten gelesen, fragte er mich: Wollten die Nationalsozialisten etwa der Papierindustrie helfen, oder hatten sie etwas zu sagen? Wir gingen beide davon aus, dass sie eher viel zu sagen hatten und dass diese Texte, Reden, Bilder, Filme etc. nicht nur eine dekorative Funktion erfüllten.
Diese reichen Quellen haben die Historiker bisher nur wenig interessiert, noch weniger unter dem Gesichtspunkt der "Normativität" (das heißt, dass es interessant wäre, sie als normative Quellen zu lesen) - bis auf die oben genannten Ansätze. So wenig Wissenschaft über so viele Quellen mag überraschen. Vielleicht erscheinen diese Quellen vielen Historikern als eine Unverschämtheit: Wenn der sogenannte Reichspressechef der NSDAP, Otto Dietrich, ein Buch mit dem Titel Philosophische Grundlagen des Nationalsozialismus schreibt und von der "Ethik" des Nationalsozialismus spricht, kann es sich aus heutiger Perspektive ja nur um Zynismus handeln. Wenn sich Himmler in Posen dafür rühmt, dass die SS bei ihrer schwierigen Aufgabe "anständig geblieben" sei, hat man gerade den Höhepunkt dieses Zynismus erreicht. Das, mindestens, glaubt man.
Ein zweiter Grund, der dafür angeführt wird, dass diese Quellen nicht ernst zu nehmen seien, ist, dass sie einfach uninteressant wären. Sie seien nichts als ungeschickte Kosmetik, die (oft im Nachhinein) die Gräueltaten des Nationalsozialismus zu rechtfertigen versuche, mit belanglosen Argumenten, da der Nationalsozialismus bekanntlich gleichbedeutend sei mit ungezügelter Gewalt und roher Barbarei.
Vielleicht sollte man die Texte und Filme, die in der NS-Zeit veröffentlicht wurden, aber ernster nehmen, einmal aus dem einfachen Grunde, dass man sich ja damals durchaus Mühe gegeben hat, sie zu verfassen (oder zu drehen, wenn es sich um Filme handelt); die Akteure selbst sahen sie also durchaus nicht als nebensächlich an. Zweitens, weil man feststellen kann, dass Theorie im "Dritten Reich" nicht immer theoretisch bleibt, sondern nicht selten in Praxis umgesetzt wird. Das soll nicht heißen, dass Worte notwendig oder gleichsam mechanisch zu Taten führen. Aber man kann doch nicht übersehen, dass es eine gewisse Kongruenz gibt zwischen dem, was geschrieben, gesagt, gezeigt wurde, und dem, was getan wurde; so dass eine allzu starke Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis hier eher künstlich wirken würde. Ich behaupte nicht, diese Texte und Filme hätten als Matrix der Gewalttaten gedient, aber ich meine, dass sie doch als Zeichen und Zeugnisse gelesen werden können, nicht von irgendeinem "Zeitgeist", sondern von einer "Kultur", die diese Gewalttaten denkbar, wünschenswert und möglich gemacht hat - einer Kultur, die die Bedingungen geschaffen hat, unter denen diese Taten denkbar und möglich wurden, in Kontexten, die der Historiker studieren sollte. Texte werden lesbar, Argumente hörbar und glaubwürdig, wenn sie in einem Kontext erscheinen, in dem sie sinnstiftend wirken und infolgedessen willkommen geheißen werden. Diese Dialektik von Text und Kontext sollte man genau berücksichtigen, um nicht in den Verdacht zu geraten, man wäre Kulturdeterminist.
Lockend, sinnstiftend, willkommen: Die NS-Normen schlossen an den Kontext der abendländischen Kultur jener Zeit an, sie waren nichts vollkommen Neues. Zugleich aber verhießen sie eine Befreiung vom Hergebrachten, von undeutschen, vermeintlich unsinnigen, ja unmenschlichen Normen; eine Befreiung von einer allzu langen und schmerzhaften Geschichte: Sie wurden als Ausdruck einer Revolution verstanden.
2.
Man liest in vielen Publikationen der Zeit von der "NS-Rechtserneuerung" oder von der "Revolution des Rechts", von der "Umwertung aller Werte" etc. Wie ist das zu verstehen? Und ist es ernst zu nehmen?
Aus allen Quellen kann man herauslesen, dass es das Projekt gab, durch eine Revolutionierung der Normen die Grundlagen nationalsozialistischen Handelns zu schaffen. Und unter "Handeln" verstand man damals hauptsächlich: Kinder zeugen, kämpfen, herrschen.
Nehmen wir diese drei Handlungen in ihrer logischen und chronologischen Reihenfolge: Der Imperativ der Kinderzeugung betraf die Erzeugung von biologischer Substanz, von Menschenmaterial, von Blut - oder wie die verschiedenen NS-Begriffe, die in diesem Komplex wirksam waren, noch lauten. Wilhelm Frick, seines Zeichens Dr. jur. und ab 1933 Reichsinnenminister, veröffentlichte 1935 in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht einen Artikel über "Mischehen". Er schrieb, dass "man" (sprich: die Kirchen) in Deutschland die konfessionellen Mischehen, etwa zwischen einem Protestanten und einer katholischen Frau, bisher verboten habe. Dabei habe man aber die Vermählung einer "reinrassigen nordisch-germanischen" Frau mit einem x-beliebigen "Neger", falls er getauft war, gesegnet. Dasselbe habe auch für die Juden gegolten: wenn getauft, dann erlaubt! Was die Kirchen nicht verstanden hätten, so Frick, sei, dass eine Mischehe nicht zwischen Konfessionen, sondern zwischen Rassen stattfinde. Dass solche rassischen Mischehen von den Kirchen und einem religiös durchtränkten Recht erlaubt worden seien, zeuge von einer kulturellen Entfremdung und von einer Entkoppelung zwischen Kultur und Natur, zwischen Recht und Naturgesetz, zwischen Blut und Tinte - eben daran sei Deutschland fast zugrunde gegangen, bevor 1933 die "nationale Erhebung" erfolgte.
Ähnliches kann man aus der Feder von Dr.?Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, lesen, der ebenso im Jahre 1935 und ebenso in einem Artikel für die Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht erklärte: Zum Glück arbeiteten die Juristen an einem neuen Gesetz, das diesen unglücklichen Verhältnissen ein Ende bereiten solle - den noch nicht so genannten Nürnberger Gesetzen.
Es stelle sich aber die Frage: Wieso ist man so lange einer Norm gefolgt, die so eindeutig gegen die Gesetze der Natur verstieß? Warum hat man nicht früher daran gedacht, die "rassischen Mischehen" zu verbieten, wie im antiken, germanischen Rom zum Beispiel, wo es einem Plebejer verboten war, eine Patrizierin zu heiraten?
Die Antwort, so die Texte, habe mit der tragischen Geschichte der nordisch-germanischen Rasse zu tun, mit ihrer rassischen und kulturellen Entfremdung. Das alte, ursprüngliche römische Recht sei von Plebejern umgeschrieben worden und in der römischen Spätzeit von Juden, die das Recht zu einer biologischen Waffe gemacht hätten: Sie hätten es benutzt, um in den rassischen Körper der nordischen Rasse einzudringen, das römische Weltreich zu zersetzen und seinen Untergang herbeizuführen. "Rassenchaos" statt "Rassenordnung", Gleichheit statt Hierarchie, Verschmelzung statt Segregation, Entartung statt Schutz des Blutes wurden die neuen Leitideen der Zeit.
Diese Zersetzungsarbeit sei dann vom Christentum fortgeführt worden - einer universalen Lehre, die auf Gleichheit beruhe, wie der Bolschewismus seit 1917 - und von anderen Doktrinen oder Bewegungen, die dieselbe Grundlage hätten: die Französische Revolution, der Humanismus, der Liberalismus und eben der Bolschewismus als letzter Ausdruck des ewigen Kampfes des Juden gegen den Arier.
Qualitativ solle man sich hüten, den bisherigen Gesetzen (denen der Weimarer Republik und des Kaiserreichs) Folge zu leisten, und darum müsse man diese Gesetze auch ändern: Um reinrassige Kinder zu zeugen, müsse man verbieten, was früher im Namen einer universalen Menschheit und Menschheitslehre erlaubt war: rassische Mischehen.
Auf die Qualität kommt es an, aber nicht nur. Die Quantität zählt auch, umso mehr, als Deutschland seit 1914 einen Aderlass erlitten hat: Im Weltkrieg seien die Besten gefallen. (Denn man geht davon aus, dass diejenigen, die bereit sind, sich für die Nation zu opfern, die Besten sind und dass - gegen die Erfahrungen des modernen, maschinell geführten Krieges - Tod ein Zeichen für Tapferkeit ist, so dass Krieg immer "Gegenauslese" bedeutet.) Und es geht weiter so, nur noch schlimmer, vor allem ab 1941 im Osten.
Man hört schon lange, in der Avantgarde der Rassisten, in der SS vor allem, dass mit der Einehe Schluss sein soll. Das ist sogar im engsten Zirkel um den "Führer" schon Praxis. Man hat gesagt, Hitler sei prüde und hätte Goebbels wegen seiner unzähligen Liebesaffären mit dem Aus gedroht. Das stimmt, allerdings nur weil die Heirat mit Magda Goebbels vom biologischen Standpunkt glücklich war (viele Kinder) und weil Goebbels eine Schauspielerin aus der Tschechei liebte, was vom völkischen Standpunkt aus nicht einwandfrei war.
Aber sonst war der "Führer" doch nicht so prüde: Heinrich Himmler hatte, was durchaus bekannt war, zwei Familien (die uneheliche wohnte in der Nähe von Hohenlychen bei Berlin in einem SS-Heim), und Martin Bormann hatte Mätressen, ohne dass der "Führer" daran je etwas auszusetzen gehabt hätte. Im Briefwechsel des Ehepaares Bormann sieht man sogar, dass diese außerehelichen Beziehungen regelrecht zu einem normierten System entwickelt wurden: Frau Bormann gab zu den Ausschweifungen ihres Ehemannes ihren Segen unter der Bedingung, dass er dabei Kinder für den "Führer" zeugen möge. Mach es so, schrieb sie, dass Du von ihr und von mir abwechselnd jedes Jahr ein Kind bekommst. Für Führer, Volk und Reich, versteht sich: rassische Pflicht also und keine Bagatelle.
Schwangere Frauen seien bekanntlich neun Monate lang in Sachen Zeugung nicht zu gebrauchen, ein Mann dagegen könne immer zeugen. Darüber spricht man ganz offen und unverblümt im engsten Führerzirkel. In den 1930er Jahren plädieren etliche Juraprofessoren für die Wiedereinführung der sogenannten "germanischen Mehrehe". Dies solle nach dem Krieg Tatsache werden - wobei, so bemerkt Hitler in seinen Tischgesprächen, auch "rassenhygienische" Kriterien miteinbezogen werden sollen: Die Genehmigung zur "Vielehe" wird man bewährten Kämpfern geben, Soldaten mit Eichenlaub zum Beispiel. Im Laufe der Zeit aber fällt allmählich diese Bedingung. Der Bedarf an Nachwuchs, an "Menschenmaterial", war einfach zu groß geworden.
Inhalt
Inhalt
Vorwort 7
Zur Einführung
Johann Chapoutot
Eine nationalsozialistische Normativität?
Über den Sinn und die Werte des Nationalsozialismus 13
Einzelethiken und -aspekte
Johannes Steizinger
Politik versus Moral
Alfred Baeumlers Versuch einer philosophischen Interpretation des Nationalsozialismus 29
Johanna Bach
Das Narrativ"sittlicher Arbeit" im moralischen Selbstverständnis der Deutschen 49
David Palme
Die"deutsche Freiheit"
August Faust und die Krise der Moral 67
Michael Schefczyk, Uri Kuchinsky
"Große Dinge geschehen, man ist immerhin gewürdigt, sie zu erleben"
Nicolai Hartmann und der Nationalsozialismus 83
Emanuel Kapfinger
Martin Heideggers"Freiheit zum Tode"
Analyse der nationalsozialistischen Subjektivität anhand Sein und Zeit 107
Steffen Kluck
Transpersonalismus
Zur normativen Dimension der neuhegelianischen Rechts-philosophie 129
Rastko Jovanov
Recht und Wirklichkeit
Rechtserneuerung im Nationalsozialismus 151
Jenseits der Ethiker
Christian Dries
"Was nationalsozialistisch ist oder nicht, wird im Einzelfall entschieden"
Hans Frank und die nationalsozialistische Urteilskraft 171
Ljiljana Radoni?
Geschlechterverhältnis und Sexualität im?Nationalsozialismus 191
Nikolas Lelle
"Firm im Führen"
Das"Harzburger Modell" und eine (Nachkriegs-)Geschichte deutscher Arbeit 205
Bernd Kleinhans
Erziehung zur Volksgemeinschaft
Der Jugendspielfilm im"Dritten Reich" 225
Die Gestalt der NS-Normativität
Volker Böhnigk
Eine Beziehung zwischen Relativismus und Nationalsozialismus - Tatsache oder Fiktion? 243
Werner Konitzer
Frühe Thematisierungen nationalsozialistischer Moral 263
Autorinnen und Autoren 280
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