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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783492055697
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 21 x 13.2 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Sebastian von Eschburg verliert als Kind durch den Selbstmord seines Vaters den Halt. Er versucht sich durch die Kunst zu retten. Er zeigt mit seinen Fotografien und Videoinstallationen, dass Wirklichkeit und Wahrheit verschiedene Dinge sind. Es geht um Schönheit, Sex und die Einsamkeit des Menschen. Als Eschburg vorgeworfen wird, eine junge Frau getötet zu haben, übernimmt Konrad Biegler die Verteidigung. Der alte Anwalt versucht dem Künstler zu helfen - und damit sich selbst. Schirach schreibt über ein aktuelles gesellschaftliches Thema, das den Leser zwingt, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen. Aber dieses Buch ist viel mehr: Schirach hat den Roman eines Lebens geschrieben, lakonisch, poetisch, berührend.

Autorenportrait

Der SPIEGEL nannte ihn einen »großartigen Erzähler«, die NEW YORK TIMES einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der INDEPENDENT verglich ihn mit Kafka und Kleist, der DAILY TELEGRAPH schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Ferdinand von Schirachs Erzählungsbände »Verbrechen« und »Schuld« und seine Romane »Der Fall Collini« und »Tabu« wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern, die bisher in mehr als 40 Ländern erschienen sind. Sein erstes Theaterstück »Terror« wurde parallel am Deutschen Theater Berlin und am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt. Schirach wurde mit mehreren - auch internationalen - Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kleist-Preis. Seinen Erfolg erklärt die französische LIBÉRATION so: »Schirachs Meisterleistung ist, uns zu zeigen, dass - egal wie monströs dessen Taten zunächst scheinen mögen - ein Mensch doch immer ein Mensch ist.« Ferdinand von Schirach lebt in Berlin.

Leseprobe

1 Auf der halben Strecke zwischen München und Salzburg, etwas abseits der großen Straßen, liegt das Dorf Eschburg. Von der Burg, die dem Dorf seinen Namen gegeben hatte, gab es oben auf dem Hügel nur noch ein paar Steine. Einer der Eschburgs war im 18. Jahrhundert bayerischer Gesandter in Berlin gewesen, und als er zurückkam, hatte er das neue Haus am See gebaut. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Eschburgs das letzte Mal Geld gehabt. Damals besaßen sie eine Papiermühle und eine Spinnerei. 1912 ertrank der erstgeborene Sohn und Erbe beim Untergang der Titanic, worauf man in der Familie später ein wenig stolz war. Er hatte eine Erste-Klasse-Kabine gebucht und war nur mit seinem Hund gereist. Er hatte darauf verzichtet, in ein Rettungsboot zu steigen, vermutlich weil er zu betrunken war. Sein jüngerer Bruder verkaufte die Unternehmen der Familie, spekulierte und verlor während der Inflation der Zwanzigerjahre den größten Teil des Vermögens. Danach war immer zu wenig Geld da, um das Haus richtig zu renovieren. Der Putz blätterte von den Mauern, die beiden Seitenflügel wurden im Winter nicht geheizt und auf den Dächern wuchs Moos. Im Frühjahr und im Herbst standen auf den Speichern Blecheimer, die den Regen auffingen. Fast alle Eschburgs waren Jäger und Reisende gewesen und 250 Jahre lang hatten sie die Zimmer des Hauses mit den Dingen gefüllt, die sie mochten. In der Eingangshalle standen drei Schirmständer aus Elefantenfüßen, daneben hingen mittelalterliche Saufedern an der Wand - lange Spieße, die zur Wildschweinjagd benutzt wurden. Zwei ausgestopfte Krokodile lagen ineinander verbissen im oberen Flur, eines hatte ein Glasauge verloren, dem anderen fehlte ein Teil seines Schwanzes. Ein riesiger Braunbär stand im Hauswirtschaftsraum, am Bauch waren ihm fast alle Haare ausgefallen. In der Bibliothek hingen die Schädel von Kudus und Oryxantilopen, auf einem Regal stand zwischen Goethe und Herder der Kopf eines schielenden Gibbons. Neben dem Kamin lagen Trommeln, Naturhörner und Lamellophone aus dem Kongo. Zwei afrikanische Fruchtbarkeitsgötter aus Ebenholz, schwarz und ernst, saßen neben dem Eingang zum Billardzimmer. In den Fluren hingen Heiligenbilder aus Polen und Russland neben vergrößerten Briefmarken aus Indien und Tuschzeichnungen aus Japan. Es gab chinesische Pferdchen aus Holz, Speerspitzen aus Südamerika, die gelben Fangzähne eines Eisbären, den Kopf eines Schwertfisches, einen Hocker mit den vier Hufen einer Säbelantilope, Straußeneier und hölzerne Truhen aus Indonesien, zu denen die Schlüssel längst verloren gegangen waren. In einem Gästezimmer standen gefälschte Barockmöbel aus Florenz, in einem anderen ein Vitrinentisch mit Broschen, Zigarettenetuis und einer Familienbibel mit silbernem Schloss. Ganz hinten im Park war ein kleiner Stall mit fünf Pferdeboxen. An den Wänden wuchs Efeu und zwischen den Pflastersteinen im Hof Gras. Die Farbe war von den Fensterläden abgeplatzt, der Rost hatte das Wasser braun werden lassen. In zwei Boxen trocknete Kaminholz, in einer anderen wurden im Winter Pflanzenkübel, Streusalz und Wildfutter aufbewahrt. Sebastian kam in diesem Haus zur Welt. Eigentlich wollte seine Mutter im Krankenhaus in München entbinden, aber der Wagen hatte zu lange in der Kälte gestanden und sprang nicht an. Während der Vater weiter versuchte, den Wagen zu starten, setzten ihre Wehen ein. Der Apotheker und seine Frau kamen aus dem Dorf, Sebastians Vater wartete auf dem Flur vor ihrem Zimmer. Als der Apotheker ihn zwei Stunden später fragte, ob er die Nabelschnur durchschneiden wolle, brüllte er ihn an, der Anlasser sei doch kaputt. Später entschuldigte er sich dafür, aber im Dorf rätselte man noch lange, was das bedeuten sollte. Kinder waren in Sebastians Familie noch nie der Mittelpunkt gewesen. Man brachte ihnen bei, wie man das Besteck beim Essen hält, wie ein Handkuss gegeben wird und dass ein Kind möglichst wenig reden sollte. Aber die meiste Zeit kümmerte man sich nicht um sie. Als Sebastian