Beschreibung
Shenja ist eine Frau, zu der man rasch Zutrauen fasst. Ireen, eine englische Ferienbekanntschaft, erzählt ihr sofort ihre ganze (erfundene) Lebensgeschichte, und bei einer Dokumentation über russische Prostituierte in der Schweiz bemerkt sie verblüfft, dass jedes Mädchen die gleiche Kindheit hinter sich hat. Eine literarische Erkundung der weiblichen Lügen, ein Zyklus gewitzter und weiser Geschichten, die alle von der Kunst zu leben handeln.
Autorenportrait
Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021), Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022) und zuletzt Die Erinnerung nicht vergessen (2023). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2020 den Siegfried Lenz Preis sowie 2023 den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und den Günter-Grass-Preis.
Leseprobe
Der letzte Tag vor der Abreise begann mit einem Anruf. Eine Stimme mit kaukasischem Akzent fragte in schleppendem, singendem Tonfall nach Shenja. »Hier ist Violetta, ich komme heute zu Ihnen saubermachen.« Shenja hüstelte verschlafen und überlegte. Sie wollte sagen, daß es ihr heute nicht paßte, weil sie morgen verreise, in zehn Tagen sei sie zurück, da könnten sie etwas ausmachen. Doch dann dachte sie: Meinetwegen! Soll sie ruhig zweimal die Woche kommen, saubermachen und Essen kochen, die Männer verwöhnen. Jedesmal wenn Shenja dienstlich verreiste, empfand sie ein leises Schuldgefühl gegenüber ihrer Familie und ihrem Haushalt. »Gut, kommen Sie her.« »Ich bin bald da, in drei Stunden etwa, ich muß nämlich noch die Kinder fertigmachen.« Shenja sah zur Uhr - es war dreiviertel acht. Um vier mußte sie bei der Lufthansa das Ticket abholen, und davor hatte sie noch ein paar Augiasställe auszumisten. Reinigung, Post und Hausverwaltung schaffte sie gerade bis elf. Punkt elf klingelte es. Shenja öffnete: Vor ihr stand ein Strauß kleiner Chrysanthemen, dahinter lächelte eine dicke Frau in einem mit Applikationen besetzten Mantel und einem rosa Schal mit grobem Lurexfaden. Zu ihrer Rechten ein etwa zehnjähriges Mädchen, zur Linken ein Junge im Vorschulalter. Der Junge trug einen Lkw auf dem Arm, der beinahe so groß war wie er selber, das Mädchen einen Tierkorb, aus dessen halboffener Tür ein riesiger Katzenkopf heraussah. »Die Großen sind in der Schule, und den Kleinen lasse ich keinen Schritt von meiner Seite. Elvirotschka hat Husten, darum geht sie erst mal nicht zur Schule. Sie hat sowieso die besten Zensuren von allen.« Während Shenja die senfgelben Blumen in Empfang nahm und die neue Situation verarbeitete, zog Violetta sich aus, half dem kleinen Achmet aus der Lederjacke, zog den beiden die Schuhe aus und stellte sie zusammen mit ihren eigenen ordentlich der Größe nach hin, die Spitzen akkurat nebeneinander. Sie streiften gestrickte Pantoffeln über, dann gingen sie alle drei ins Eßzimmer und setzten sich an den Tisch. Der Kater, einen strengen Ausdruck im grauen Gesicht, saß auf dem Schoß des Mädchens. Violetta sollte sich im Laufe der Zeit als ein wahres Goldstück erweisen. Ihre älteste Tochter war mit achtzehn Jahren bei einem Brand während der Bombardierung von Grosny umgekommen. Der kleine Achmet hatte damals im Krankenhaus gelegen - die Familie war im Krankenhausflur unter Beschuß geraten, dabei war das Kind am Arm verwundet worden, der Vater am Bein. Der Kater war durch eine Bombenexplosion ertaubt, seitdem schleppte Elvira ihn auf dem Arm herum. Ein gutes Mädchen, hatte Mitleid mit dem Invaliden. Violetta zog den Reißverschluß ihrer Tasche auf, nahm eine Tüte heraus und breitete geschäftig Papiere und Fotos auf dem Tisch aus. »Das ist mein Diplom, beinahe mit Auszeichnung. Meine Beurteilung von der Arbeitsstelle. Das ist mein Papa, das Foto wurde nach dem Krieg damals gemacht, da war er noch ganz jung. Und hier, mein Ausweis. Die Geburtsurkunden von Achmet, von Elvira, von Iskander und von Rustam. Unser Hochzeitsfoto. Mein Mann war Oberingenieur. Aber den Betrieb gibt es jetzt nicht mehr. Das ist mein älterer Bruder mit seiner Familie. Er hat zwei Mädchen und drei Söhne. Hier. Das ist das letzte Foto von vor dem Krieg, da ist meine Große gerade so alt wie Elvira jetzt, zehneinhalb. Und das sind Artikel aus unserer Republikzeitung: Als mein Mann fünfzig wurde, vor dem ersten Krieg, hat er eine Ehrenmedaille bekommen.« Der ganze Tisch war bereits übersät mit Fotos und Papieren, und Shenjas Herz pochte dumpf wie ein Zahn nach de Leseprobe