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Utopie und Entzauberung

Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne

Erschienen am 21.08.2002
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446202160
Sprache: Deutsch
Umfang: 368 S.
Format (T/L/B): 3.5 x 21 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Mit Leidenschaft, Ironie und Scharfsinn erzählt Claudio Magris in seinem Essayband von einer Vielzahl von Themen: der Rolle des Intellektuellen in der Politik, der Erfahrung der Grenze, der Frage nach dem freien Willen, und von Autoren der Weltliteratur. "Claudio Magris hat die Topographie unserer Kultur in vielen wundervollen, rätselhaften und komischen Einzelheiten gezeichnet." (Adolf Muschg)

Autorenportrait

Claudio Magris, 1939 in Triest geboren, studierte Germanistik in Turin und Freiburg. Von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2006 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur in Triest. Bei Hanser erschienen u.a. Donau (Biographie eines Flusses, 1988), Blindlings (Roman, 2007), Ein Nilpferd in Lund (Reisebilder, 2009), Verstehen Sie mich bitte recht (2009), Das Alphabet der Welt (Von Büchern und Menschen, 2011), Die Verschwörung gegen den Sommer (über Moral und Politik, 2013), Verfahren eingestellt (Roman, 2017), Schnappschüsse (2019) und Gekrümmte Zeit in Krems (Erzählungen, 2022). Magris erhielt zahlreiche wichtige Literaturpreise, u.a. 1999 den Premio Strega für Die Welt en gros und en détail, 2001 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung und 2006 den Prinz-von-Asturien-Preis. 2009 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Essaypreis Charles Veillon. 2012 wurde ihm das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

Leseprobe

Ein Papierkügelchen oder Über das Vorurteil Es muß im April oder Mai 1956 in Triest gewesen sein. Wir waren etwa in der fünften Gymnasialklasse, und in der Griechischstunde hatte einer meiner Kameraden namens Cecovini ein Papierkügelchen abgeschossen, das unvermutet auf dem kahlen Schädel des am Pult über das Klassenbuch gebeugten Lehrers gelandet war. Der blickte auf, sah vor sich in der ersten Reihe den Schüler De Cola sitzen und machte ihn sofort und ohne zu zögern als den Schützen aus. "Du, mein lieber De Cola, der du dich damit amüsierst, Papierkügelchen zu schießen." Der Beschuldigte beteuerte heftig seine Unschuld, doch vergebens, denn der Lehrer fuhr, gutmütig zwar, aber unbeirrt, fort, auf ihn einzureden: "Tja, mein lieber De Cola, du hast nun mal die Angewohnheit, Papierkügelchen zu schießen, ich weiß. dir macht es Spaß, den Pandaros zu spielen, den trojanischen Bogenschützen, wie?" Nach ein paar Minuten erhob sich der wahre Schuldige, Ehrenmann, der er war, und sagte: "Herr Professor, das war ich." Worauf der Lehrer einen zerstreuten Blick auf ihn warf und erwiderte: "Ach, du warst das, na gut. aber auch du, De Cola, mit deiner Neigung, Papierkügelchen zu schießen." Von diesem Tag an wandte sich unser Griechischlehrer, ein großer Kenner und Vermittler seines Fachs, jedesmal, wenn er das Klassenzimmer be-trat, sofort an De Cola: "Du, der immer Papierkügel- chen schießt. ich weiß, ich weiß, neulich ist es Cecovini gewesen, aber auch du, mit dieser schlechten Angewohnheit." Diese Unterrichtsstunde, die den Mechanismus eines Vorurteils aufdeckte und zeigte, wie tief es sich in uns einnistet, ohne sich von den Dementis der Realität beirren zu lassen, habe ich nie mehr vergessen. Die Tatsache, daß De Cola dieses eine Mal keine Papierkügelchen geschossen hatte, war für den Lehrer etwas ebenso Zufälliges und Unwesentliches wie die, daß es dieses eine Mal Cecovini gewesen war. Notwendig und fundamental war in seinen Augen vielmehr die Tatsache, daß nach seiner Meinung in De Colas Wesen eine schuldhafte Neigung lag, Papierkügelchen zu schießen, auch wenn er sie nicht schoß. Genauso hat der Antisemit, der davon überzeugt ist, daß die Juden bei ihren Ritualen Christenkinder töten, noch nie einen Juden diesen Mord begehen sehen, und vielleicht gibt er sogar zu, daß ein solches Verbrechen nie bewiesen oder auch nie begangen wurde, aber das hat keinen Einfluß auf seine Überzeugung, denn für ihn kommt es nicht darauf an, ob die Juden diese Missetaten begehen oder nicht, sondern nur, daß sie ihrer Veranlagung nach dazu neigen, sie zu begehen. Eine solche Überzeugung kann, gerade weil sie sich auf nichts gründet, nicht ausgeräumt werden, und verbleibt daher unausrottbar und souverän im Innersten der Seele, in jenen Hohlräumen des Unbewußten und jenem Herzensbrei, wo die Logik und der Satz vom Widerspruch leider wenig Macht zu besitzen scheinen. Als zum Beispiel ein Gesundheitsminister sagte, daß bei Aids die Prophylaxe keine absolute Garantie gegen die Ansteckung biete, hat man sich nicht gefragt, ob seine Behauptung begründet sei oder nicht, ob die Prophylaxe eine hundertprozentige Sicherheit biete oder eine siebzig-, vielleicht auch achtzigprozentige Wahrscheinlichkeit, die Krankheit nicht zu bekommen. Da es sich um einen christdemokratischen Minister handelte, wurde von vornherein, unabhängig von irgendeiner Überprüfung, davon ausgegangen, daß seine Behauptung parteiisch sein, daß sie auf repressiver Bigotterie basieren müsse. Es gibt ungezählte Beipiele, komischer und tragischer Art, und sie reichen von jahrhu Leseprobe