Beschreibung
Vierzig Jahre nach Erscheinen des epochemachenden ersten Essaybandes der bedeutenden amerikanischen Intellektuellen liegen nun Aufsätze aus den letzten zwanzig Jahren vor: über Schriftsteller und Künstler, Photographie und Film, Schreiben und Leben. Texte, die Susan Sontags große Bandbreite an Themen zeigen und von ihrer Begeisterungsfähigkeit zeugen. So berühren die persönlichsten Aufsätze, wie der über eine Theateraufführung im belagerten Sarajewo, am meisten.
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Autorenportrait
Susan Sontag, 1933 in New York geboren, war Schriftstellerin, Kritikerin und Regisseurin. Sie erhielt u.a. den Jerusalem Book Prize 2001, den National Book Award und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei Hanser erschienen zuletzt Das Leiden anderer betrachten (2003), Worauf es ankommt (2005), Zur gleichen Zeit (Aufsätze und Reden, 2008), Wiedergeboren. Tagebücher 1947-1963 (2010), Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980 (2013) und die Erzählungen Wie wir jetzt leben (2020). Susan Sontag starb 2004 in New York. Über ihr letztes Lebensjahr berichtet ihr Sohn David Rieff in Tod einer Untröstlichen (Hanser, 2009).
Leseprobe
13. Juni 1996 New York Lieber Borges, da Ihre Literatur immer im Zeichen der Ewigkeit stand, mag es als nicht allzu seltsam erscheinen, wenn ich einen Brief an Sie richte. (Borges, es ist schon zehn Jahre her!) Wenn je ein Zeitgenosse für literarische Unsterblichkeit bestimmt schien, dann waren es Sie. Sie waren in großem Maße das Produkt Ihrer Zeit, Ihrer Kultur, und doch verstanden Sie sich darauf, Ihre Zeit, Ihre Kultur auf eine Weise zu transzendieren, die ganz zauberisch anmutet. Das hatte etwas mit der Offenheit und Großzügigkeit Ihrer Hinwendung zu tun. Sie waren der am wenigsten egozentrische, transparenteste aller Schriftsteller, wie auch zugleich der kunstreichste. Es hatte auch etwas mit einer natürlichen Reinheit des Geistes zu tun. Obwohl Sie recht lange Zeit unter uns gelebt haben, haben Sie Gepflogenheiten der Sorgfalt und der Unvoreingenommenheit vervollkommnet, die Sie auch zu einem kundigen Reisenden des Geistes in andere Epochen machten. Sie hatten einen Zeitsinn, der sich von dem anderer Menschen unterschied. Die normalen Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schienen unter Ihrem Blick banal. Sie sagten gern, daß jeder Moment der Zeit die Vergangenheit und die Zukunft beinhalte, indem Sie (wie ich mich erinnere) den Dichter Browning zitierten, der ungefähr geschrieben hat: 'Die Gegenwart ist der Augenblick, in dem die Zukunft zur Vergangenheit zerfällt.' Das war natürlich Teil Ihrer Bescheidenheit: daß Sie gern Ihre Gedanken in den Gedanken anderer Schriftsteller wiederfanden. Ihre Bescheidenheit war Teil der Gewißheit Ihrer Gegenwart. Sie waren ein Entdecker neuer Freuden. Ein so profunder, so gelassener Pessimismus wie der Ihre konnte von Empörung absehen. Er mußte eher erfinderisch sein - und Sie waren vor allem erfinderisch. Die Gelassenheit und die Selbsttranszendenz, zu denen Sie gefunden haben, sind für mich beispielhaft. Sie haben gezeigt, daß man nicht unglücklich sein muß, selbst wenn man einen klaren Blick und keine Illusionen hinsichtlich dessen hat, wie schrecklich alles ist. Irgendwo haben Sie gesagt, daß ein Schriftsteller - taktvoll haben Sie hinzugefügt: alle Menschen - denken muß, daß alles was einem zustoßen kann, eine Ressource ist. (Sie haben dabei an Ihre Erblindung gedacht.) Sie sind für andere Schriftsteller eine große Ressource gewesen. 1982 - also vier Jahre vor Ihrem Tod - habe ich in einem Interview gesagt: 'Es gibt keinen heute lebenden Schriftsteller, der mehr für andere Schriftsteller bedeutet als Borges. Viele würden sagen, daß er der größte lebende Schriftsteller ist[...] Nur sehr wenige Schriftsteller unserer Zeit haben nicht von ihm gelernt oder ihn nachgeahmt.' Das gilt immer noch. Wir lernen immer noch von Ihnen. Wir ahmen Sie immer noch nach. Sie haben den Menschen neue Weisen des Imaginierens gegeben, während Sie wieder und wieder erklärten, wieviel wir der Vergangenheit verdanken, vor allem der Literatur. Sie haben gesagt, daß wir der Literatur fast alles schulden, was wir sind und was wir gewesen sind. Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden, und die Menschen werden ebenfalls verschwinden. Ich bin sicher, daß Sie recht haben. Bücher sind nicht nur die beliebige Summe unserer Träume und unser Gedächtnis. Sie bieten uns auch das Vorbild für Selbsttranszendenz. Manche Leute halten Lesen bloß für eine Art von Flucht: eine Flucht aus der 'wirklichen' Welt des Alltags in eine imaginäre Welt, die Welt der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Bücher jetzt als eine gefährdete Gattung gelten. Mit Büchern meine ich auch die Bedingungen des Lesens, die Literatur und ihre Wirkung auf die Seele ermöglichen. Bald, so sagt man uns, werden wir uns jeden 'Text' auf einen 'Bücherschirm' abrufen, und wir werden in der Lage sein, sein Erscheinungsbild zu verändern, Fragen an ihn zu stellen, mit ihm in 'Interaktion' zu t ... Leseprobe