Beschreibung
Eigentlich hatte ich nie vor, eine Autobiographie zu schreiben, ist sie doch mehr Dichtung als Wahrheit. Außerdem schreibt heutzutage selbst die Donau ihre lange Geschichte auf. Ich scherze nicht! Wie kann ich mich mit ihr vergleichen, auch wenn ich oft in ihr geschwommen bin? Wagen wir uns an unser Selbst (autos), wird es leicht peinlich. Fragen wir nach dem Leben (bios), verweigert die Gegenwartsphilosophie eine Antwort: Das sei ein zu weites Feld. Bedenken wir das Schreiben (graphein), werde ich zu hören bekommen: So schreibt man doch heute nicht mehr. Und morgen? Morgen werde ich vermutlich am Berg liegen, am Rande von Bonn mit Blick auf die schönen Holzlarer Lande. Ich bin ein Mann des 19. Jahrhunderts, sofern ich nicht der Tang-Zeit entstamme oder aus Athen als Sklave geflohen bin. Ich komme also mit jedweden Mythen und Sagen von überall her. Wie Li Bai ist mir das Hyperbolische zu eigen. Insofern mag ich inzwischen doch dem Werbespruch "More is not enough "Folge leisten. Ich nahe aus vielen Sprachen und aus viel mehr Traurigkeiten, denn dem Leben war Erlösung versprochen. Man traut eine solch große Tat weiterhin der Moderne zu, deren Versprechungen ein jedes Selbst noch haltloser haben werden lassen. Ist jegliches Schreiben daher lediglich eine letzte Art von Verständigung darüber? Über die Toten, die uns vorangehen, über die Toten, die uns folgen werden? Warum sich dann selber belasten? Und ebenso die nach Heiterkeit verlangende Leserschaft? Ich sage manchmal, das Leben, unser Leben, habe eine Verantwortung. Es habe kein Recht mehr zu klagen, es sei unser unwürdig. Es solle sich lieber selber stellen. Die großen Trinker hatten das große Getränk, die Melancholiker bemühten ihre melancholische Seele und die Spötter zürnten den Eltern, überhaupt zürnen zu dürfen. Wenn sie aber alle geschwiegen hätten, was wüßten wir dann über uns? Wir können nur böse sein, weil uns Böse vorangegangen sind. Eine Lebensbeschreibung als Poetik ist Kunde davon, selbst im Guten. Wir hören auch, eine Biographe richte uns akademisch. So zumindest die Meinung kluger Frauen. Doch die Akademie hat uns längst gerichtet. Selbst in ihrem Tod hat sie nichts unversucht gelassen, ihre letzten Planken zu durchlöchern. Wir sind nicht allein in unserem Tun. Das ist unser einziger Trost. Um den Tröstenden Trost zurückzugeben, habe ich mich ganz auf meine Erinnerungen verlassen. Ich habe wenig nachgeschlagen, nachgeschaut, ich habe lieber manchmal gefragt. So befragte ich Rudolf Rösch in Wien nach unserer gemeinsamen Verwandtschaft, Matthias Kubin in Dinkelsbühl nach unseren gemeinsamen Jahren in Salzbergen und Rheine, Ludger Funke in Drensteinfurt nach unserer gemeinsamen Gymnasialzeit. Ich befragte wenige Wegbegleiter also. Ich wollte niemanden zu tief entmutigen, auf ein Leben zurückblicken zu müssen, welches sich darin gefiel, uns zu viele Recken beizeiten genommen zu haben. Schrieb ich gegen all die Verluste an? Mir behagte es, das Jahr, welches wir Corona nennen, chinesisch zuzubringen. Ich kehrte die Zeit in Bonn um. Ich zählte in meiner epidemischen Gefangenschaft die Stunden so wie in Shantou auch: Die rheinländische Nacht mutierte zum chaozhouer Tag. Ich arbeitete in der Dunkelheit und ruhte wenig unter dem Sonnenlicht, stets in der eiligen Erwartung, früher an meine neue Alma Mater in der Provinz Guangdong heimkehren zu können. So wurde der erste Band fertig. Band 2 wird den Titel "Die Lage ist ausgezeichnet" tragen und die Jahre 1966 bis 1985 behandeln. Band 3 und Band 4 mögen im Untertitel "Die Bonner Jahre (1985-2011)" bzw. "Die chinesischen Jahre (2011 bis?)" lauten. Warum nicht alle Erinnerung in einen einzigen Band verpacken? Lu Xun meinte einmal, alles Schreiben entstehe aus der Erinnerung. Wir schrieben, weil wir nicht vergessen könnten. Wenn ich nicht die Tinte und die Taste bemühte, würde ich folglich die Verstorbenen dem Vergessen anheimgeben. Wenn ich nicht schriebe, wären die Toten noch töter. Aber solange sie leben, mögen
Autorenportrait
Wolfgang Kubin (chin. Gu Bin), geb. 1945 in Celle, arbeitet und lehrt seit 2011 als Senior Professor erst in Peking, nun in Shantou. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit übersetzt und schreibt er Lyrik, Essays, Erzählungen. Er hat viele Preise in China und Deutschland gewonnen.