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Schattenspiele toter Mädchen

Roman, Epik 128

POP
Erschienen am 02.12.2021
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783863563608
Sprache: Deutsch
Umfang: 401 S.
Format (T/L/B): 3.6 x 20 x 14 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

"Jetzt, im hohen Alter, befällt mich eine nahezu verstiegene Sehnsucht nach Menschenkindern, die nicht mehr sind. Nach den Mädchen, die einst begreifbar waren bis in die Fingerspitzen der Seele und durch ihren Tod unbegreiflich geworden sind. Ich lerne, die regungslosen Erinnerungen zu erwecken, die abgebrochenen Geschehnisse weiterzuführen. Es gelingt, verblichene Gestalten wachzurufen, so dass ihre Gegenwart weh tut zwischen Gedächtnis und Phantasie." Denke ich heute zurück, während ich das Einstige beschwöre: Da- mals, in den jungen Jahren - mein Gott, wie denn auch? -, hatte noch kein totes Mädchen das Gemüt verstört. Aber Rainer Maria Rilke berührte zu früher Stunde unser Gemüt, wenn noch nicht als Schlußstück: "Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu wei- nen / mitten in uns." Es fällt mir auf: Erzählt wird manches, was schon früher festgeschrieben ist. Dieselben Namen spazieren durch die verschiedenen Bücher. Weshalb ich auf bereits Bekanntes zurückgreife? Der Gedächtnis- roman. Im Gegensatz zum Erin- nerungsroman. Denkbar so: Da wäre die Omni- präsenz meiner Biografie in allem, was ich schreibe. Die Biografie, die sich bei aller Modellierbarkeit des Textes an Fixpunkte halten muss. Doch jedes Mal neu ist der Kontext. Die Frage, die den Schreibenden wie die Lesenden immer wieder umtreibt: Was ist ersonnen, was ist Tatsache in dem Text? Wann und wo und wie decken sich Erdichtetes und Erinnerung? Die lila Maske vor dem Gesicht: durchscheinend? Ich meine, dass es in jeder Geschichte einen Angelpunkt geben muss, wo sich erinnerte Wahrheit und wahre Geschichte in den Armen liegen. Zu bedenken wäre: "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit!" Und als Nächstes: Warum diese Geschichte zu später Lebensstun- de? Warum jetzt, was seit Langem in der Luft lag als klagendes Gedächtnis: die toten Mädchen vor der Zeit, vor meiner Zeit. Ja, warum? Zwei Buben fahren mit den Rädern von einem Dorf ins andere. Eine Begebenheit, die Jahrzehnte zurückliegt. Die Fahrt? Eigentlich ein Schüleraufsatz. Der mit der lächerlichen Überschrift Der Hampel- mann begonnen und sich zum makabren Totengeleit geweitet hat. Denn was mir während des Schrei- bens beklemmend auffällt, ist, dass sich diese Fahrt nicht nur aufrollt als eine Episode entlang der endlosen Baumreihen auf einer Landstraße, sondern dass sie vorbeiführt an Grabsteinen verstummter Namen - irgendwo, nirgendwo. Dies Nirgendwo ist im Laufe des Lebens zu einer Zeichenkette angewachsen, besteckt mit nahen Na- men. Die sich verflüchtigten, oft Jahrzehnte ungenannt blieben. Bis sie in einer Todesnachricht wiederkehrten, oft als Fama. Und ich erlebe es in ratloser Wehmut, dass diese elysäischen Wesen einer frühen Entflammtheit bereits tot sind, vor mir tot sind. Während des Schreibens erscheinen immer an- dere Namen von "nicht mehr - nie mehr". Es gibt kein letztes geliebtes Wesen. Nur vorletzte Geschöpfe der Schattenspiele. Eginald Schlattner

Autorenportrait

Eginald Schlattner, geboren 1933 in Arad/Rumänien, ist evangelischer Pfarrer und Schriftsteller. Er betreut seit 1991 als Gefängnisseelsorger Straftäter verschiedener Konfession in den Haftanstalten des Landes. Verurteilt in den 1950er-Jahren als Student in einem politischen Prozess, arbeitete er nach der Entlassung erst als Ziegelbrenner, dann bei einer Staatsfarm und beim Bahnbau, ehe er 1969 das Studium der Hydrologie abschließen durfte. Vier Jahre später sagte er dem Ingenieurberuf ab und studierte Theologie. Nach dem blutigen Ende der Diktatur 1989 erschienen zwischen 1998 und 2005 die Romane Der geköpfte Hahn, Rote Handschuhe und Das Klavier im Nebel (Zsolnay Verlag, Wien). Vielfache Übersetzungen, u. a. ins Rumänische, Spanische, Portugiesische, Russische (auch als Online-Version), Holländische, Japanische (in Vorbereitung) und Verfilmungen. Der Roman Rote Handschuhe, der die zwei Jahre Zellenhaft bei der Securitate in Stalinstadt (heute Kronstadt/Brasov) thematisiert, figuriert unter den hundert besten in deutscher Sprache geschriebenen Büchern 1999-2001 (Goethe-Institut, Inter Nationes). Weitere Publikationen: Mein Nachbar, der König und Odem (Schiller Verlag, Hermannstadt/Sibiu, 2013), Wasserzeichen (2018, 2. Auflage 2020 mit dem Untertitel Ersonnene Chronik), "Gott weiß mich hier". Radu Carp im Gespräch mit Eginald Schlattner (2020) und Drachenköpfe (2021), die letzten drei im Pop Verlag, Ludwigsburg. Der Autor lebt auf dem Pfarrhof in Rothberg/Rosia, Siebenbürgen.