Beschreibung
'Eng drängten sich die Buchstaben aneinander, nur selten gab es Durchgestrichenes und es war eine saubere, gleichmäßige Handschrift, wie man sie nur durch regelmäßiges Üben erhielt. Das Papier knisterte, als sie die übrigen Seiten durch die Finger gleiten ließ. Bis zur Hälfte war das Buch beschrieben. Da sie sich vom letzten Eintrag den größten Aufschluss erhoffte, beschloss sie zunächst dort weiter zu lesen. Mit der flachen Hand strich sie über die Falz. Dabei bemerkte sie gleich, dass sich das Schriftbild von jenem im ersten Eintrag unterschied. Ungleichmäßig, fehlerhaft schienen die Worte hingeworfen, beinah, als seien sie in größter Eile oder unter erschwerten Umständen geschrieben worden.' Ein geheimnisvolles Mirakelbuch in den Habseligkeiten eines stummen Mädchens. Wolfsspuren im frisch gefallenen Schnee. ein ausgesetzter Säugling vor der Klosterpforte. ein blutiger Dolch, von der Tochter des Burgherrn im Wald verscharrt. Zwölf historische Geschichten, eingebettet in die waldreichen Hügel des Westerwaldes, erzählen von Liebe und Verlust, Angst und Mut, Sehnsucht und Verzweiflung. Sie entführen ihre Leser in die mittelalterlichen Städtchen des Westerwaldes, auf die Bergfriede einstiger Burgen, hinter die Pforten von Klöstern und Kapellen. Und am Ende einer jeden Erzählung ist man sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sich das soeben Gelesene nicht tatsächlich in jenen Tagen zugetragen haben könnte.
Autorenportrait
Michaela Abresch, Jahrgang 1965, geboren und aufgewachsen im Westerwald. Nach mehreren Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien ist Das Mirakelbuch ihr erster eigener Erzählband. Michaela Abresch lebt mit ihrer Familie in Dierdorf, einer Kleinstadt im Westerwald, und ist tätig in der pädagogisch-pflegerischen Arbeit mit schwerstmehrfachbehinderten Menschen. 'Die Vergangenheit ist wie ein See mit einer unermesslichen Vielfalt an Geschichten, die nur darauf warten, heraus gefischt zu werden. Einige sträuben sich anfangs ein wenig, für sie brauche ich Geduld und die richtigen Worte, sie zu zähmen. Aber die meisten rufen nach mir.'
Leseprobe
Versprochen (Hachenburg, Anno Domini 1636) Es war die dritte Fuhre seit dem Morgen, eine weitere Todesladung. Obschon der Sommer bleiern über dem Land lastete, schauderte Almut beim Anblick dessen, was sie drüben auf dem Erbenfeld erspähte. Es war zu weit, um Einzelheiten zu erkennen, Gesichter vielleicht oder Stimmen zu vernehmen, aber nah genug, um zu begreifen, was dort vor sich ging. Seit Tagen dasselbe Bild, die sich immerfort wiederholenden Handgriffe der Totengräber. Der Leichenkarren, beladen mit zwei, drei, manchmal auch mehr, in schmuddelige Tücher eingewickelten Toten, wurde, kaum dass er zum Stehen gekommen war, in einer Hast, die eines Verstorbenen kaum würdig war, seiner faulenden Fracht entledigt. Zu zweit wuchteten sie die Leichname vom Karren, warfen sie, einen nach dem anderen, in die zuvor ausgehobene Grube und schaufelten Erde darüber, ohne Zeit zu verlieren. Einmal in der Morgendämmerung hatte Almut sich herangewagt und mit angehaltenem Atem hinterm Gestrüpp gewartet, bis die Totengräber mit ihrem Karren wieder verschwunden waren. Sie hatte geweint beim Anblick der ungezählten, nachlässig aufgehäuften Erdhügel, unter denen man die Menschen wie Tiere verscharrt und ohne Gebet vergraben hatte. Das Erbenfeld war ein Pestfriedhof geworden und die Sorge, der Schwarze Tod könnte auch Mattes geholt haben, raubte Almut beinahe den Verstand. An den kühlen Stein der Scheune gelehnt, die ihr seit dem Tag ihrer Verbannung aus der Stadt als Bleibe diente, verschloss sie die Augen vor dem Grauen. So bemerkte sie die schwarzbraune Stute nicht, die in der Nähe mit lose herunter baumelnden Zügeln graste, ebenso wenig wie den neben ihr knienden Reiter. Besorgt dreinblickend betrachtete er die Fessel ihres rechten Vorderbeines, während er ungehaltene Flüche ausstieß. Almut fuhr herum, als sie seine Stimme vernahm. Nur selten verirrten sich Durchreisende hierher. Obwohl der seit Jahren währende Krieg immer wieder Flüchtlinge und Soldaten in die Gemarkung an der Nister trieb, waren es, seit sie in der Scheune außerhalb der Stadtmauern lebte, kaum mehr gewesen, als sie Finger an einer Hand hatte. Ein Augenblick genügte, um den Fremden vom Kopf bis zu den Stiefeln zu mustern. Er sah gesund aus, gewaschen und sauber gekleidet, hatte braunes, schulterlanges Haar und einen dünnen Kinnbart. In seinem Gürtel steckten Reithandschuhe aus feinem Leder. "Habt Ihr Euch verirrt, Herr?" Sie hatte es nicht verlernt. Vielleicht gehörten zwanglose Plaudereien mit fremden Männern zu den Dingen, die einem, wenn man sie einmal beherrschte, in Fleisch und Blut übergingen. Dieser hier machte einen wohlhabenden Eindruck, außerdem waren die Packtaschen am Sattel seines Pferdes gut gefüllt, vielleicht bezahlte er mit Essbarem. Augenblicklich legte sie die Gedanken an die Seuche, an Mattes, all ihre Sorgen, den Hunger und die Angst ab wie ein zu eng gewordenes Kleid und schlüpfte in ihre zweite Haut. Wie zufällig hob sie beim Gehen ihren Rock etwas höher, als es nötig gewesen wäre. Mit der anderen Hand griff sie in die rotblonde Flut ihrer Haare. Sie verfilzten allmählich, doch noch fand Almut eine Strähne, die sich anmutig um den Finger drehen ließ. Sie setzte das aufreizende Lächeln auf, von dem sie wusste, dass die Männer es mochten, und ließ ihn, als nur noch ein Schritt zwischen ihnen lag, einen Blick in den Ausschnitt ihres Leibchens werfen. "Nein, nicht verirrt." Der Fremde erwiderte ihre Koketterie mit dem Blick, den Almut erwartet hatte. Die Grübchen in seinen Wangen gefielen Almut, sie verliehen seinem Gesicht etwas Schelmisches. Doch der Augenblick dauerte nur kurz, gleich darauf trat er einen Schritt zur Seite und wandte sich wieder seinem Tier zu. "Ich war im Gefolge meines Herrn unterwegs, als plötzlich mein Pferd lahmte", sagte er. Das Lächeln wich, besorgt runzelte er die Stirn. "Ich musste absitzen, um es am Zügel zu führen und die anderen vorreiten lassen." Mit der einen Hand klopfte er sanft den Hals des Tieres, mit der