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Das Gedächtnis der Libellen

Roman

Erschienen am 23.08.2010
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783630873343
Sprache: Deutsch
Umfang: 253 S.
Format (T/L/B): 2.6 x 22 x 14.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Produktsicherheitsverordnung

Hersteller:
Luchterhand Literaturverlag Penguin Random House Verlagsgrup
ann.schnoor@penguinrandomhouse.de
Neumarkter Str. 28
DE 81673 München

Autorenportrait

Marica Bodrozic kam 1973 in Dalmatien zur Welt. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Förderpreis für Literatur der Akademie der Künste in Berlin, den Kulturpreis Deutsche Sprache, den Literaturpreis der Europäischen Union und zuletzt für den Band "Mein weißer Frieden" den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2015. Marica Bodrozic lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.

Leseprobe

Der Zug f?t langsam. Ich sitze im Gro?aumwagen. Mein Herz rast wie das Herz eines gejagten Tieres. Im Doppelschritt rast es, schon seit Stunden rast es. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen, macht es eine Herzgejagte aus mir. Der Zug h? an der deutsch-holl?ischen Grenze. Offenbar h? er schon eine ganze Weile, ohne dass es mir auff?t. Meine Stiefel haben die h?chsten Abs?e, die ich auftreiben konnte. Ich habe mir die Stiefel f?r diese Reise gekauft. Ilja will mich vom Bahnhof abholen, Ilja, der beim Reden immer mit den Propheten in Konkurrenz tritt, er will mir alles ?ber meine Zukunft sagen, ohne dass ich ihn darum gebeten habe. Ich habe einen Direktzug von Berlin nach Amsterdam gebucht. Nie zuvor habe ich mir ?berhaupt nur vorstellen k?nnen, mit dieser Art Absatz zu laufen, schon gar nicht auf eine Auslandsreise zu gehen. Seitdem ich Ilja kenne, bin ich in allem von meiner alten Perspektive abger?ckt. Wenn er bei mir ist, kommt mir alles Verr?ckte normal und alles Normale verr?ckt vor. Ich rufe mir Iljas Blick in Erinnerung, male mir aus, wie es sein wird, ihn dort in Amsterdam zu sehen, seine Augen zu sehen, in einem fremden Land, unter fremden Menschen, und es kommt mir so hoffnungslos selbstverst?lich vor, dass ich diese Abs?e trage, dass ich mir diese Schuhe f?r diese Reise gekauft habe, von der ich nicht wei? wie sie ausgehen wird und ob wir gl?cklich sein werden oder nicht. Im Zug ist es warm. Ich versuche zu lesen. Meine Gedanken sind kleine Insekten. Sie huschen von Gesicht zu Gesicht, von Fenster zu Fenster, von Koffer zu Koffer. Dann stehe ich auf und gehe von Abteil zu Abteil. Das Buch ist zum ersten Mal kein Freund, es ?ffnet mich nicht. Ich ziehe meinen Lippenstift nach, immer wieder, als k?nnte ich auf diese Weise meinen Mund im Hinblick auf die Unendlichkeit versch?nern. Das Einzige was ich erreiche, ist aber nur ein klebriges Gef?hl beim Schlie?n der Lippen. Es ist wie damals, in der Kindheit, als Preiselbeeren, Maulbeeren, Johannisbeeren und Himbeeren meine Ersatzschminke und K?sse nur Phantasiegebilde waren. Ilja liebt meinen Mund. Er sagt es mir nie laut, nicht mit Worten, nur wenn wir uns k?ssen, spricht er dann so mit mir. Er bei? zuerst in den einen Mundwinkel, dann in den anderen. Danach arbeitet er sich gleich mit seiner Zunge zu meiner Mitte vor, zum Offenen, wo ich mit meiner Zunge schon ungeduldig auf ihn warte. Ich rolle meine Zunge zusammen, lege sie wie eine spitze kleine Waffe nach vorne, ganz weit nach vorne, und wenn er mit seinen Lippen zu meiner Mitte kommt, ziehe ich meine Waffenzunge zur?ck, ich locke ihn herein, ich will Ilja ganz haben. Ilja kommt, er kommt immer, so, dass ich ihn noch tiefer in meinen Mund hereinlasse, weil auch er mich jetzt in sich hineinzieht. Ich schwitze, am Hals, hinter den Ohren, unter den Achseln, ich stelle es mir schon im Zug vor, wie ich schwitze und nichts mehr au?r Iljas Atem h?ren kann, wenn er bei mir ist, in einem noch nie zuvor gesehenen Zimmer, wenn sein Atem meine Ohren ausf?llen wird und wir endlich dieses unbekannte Zimmer f?r uns allein haben werden. Hautnachbarschaft. Mundnachbarschaft. Ilja, Tag und Nacht. Ich sitze im Zug und warte auf seine S?e, auf sein Gesicht, auf seine H?e, die warmen wei?leuchtenden Fingerkuppen, auf seinen Singsangwitz, der die ganze Spannung in unserem lauten Lachen aufl?st. Ich tr?e seit Monaten von Iljas H?en. Warum ich seine H?e im Traum immer wieder genau vor mir sehe, das wei?ich nicht, aber seine H?e sind immer bei mir. Vielleicht tr?e ich von Beginn an von seinen H?en, weil ich wei? dass sie nie f?r l?er, schon gar nicht f?r immer bei mir bleiben werden. Traumh?e bleiben nicht. Aber auch die echten H?e sind nicht bei mir geblieben. Ilja hat zarte H?e, weiche H?e, viel zu zart und viel zu weich f?r einen Mann, der einen Krieg ?berlebt hat, noch ein Junge war, damals, als pl?tzlich das Schwimmen im Fluss und das Spielen auf der Stra? lebensgef?liche Dinge wurden. Seine Zeigefinger sind etwas uneben, die Knochen s