Beschreibung
Traumatisierte Menschen fühlen sich in viel stärkerem Maße als andere als »multiple« Persönlichkeiten. Ihr Selbst zerfällt - bewusst oder unbewusst - in die unterschiedlichsten Teile. Wie mit den Selbstanteilen psychotherapeutisch wirksam gearbeitet werden kann, zeigt dieser praxiserprobte und innovative Ansatz.Wer oder was ist das »Ich«? Diese Frage beschäftigt nicht nur Philosophen, sondern auch die Seelenärzte und Psychotherapeuten seit Sigmund Freud. Eine therapeutisch fruchtbare Antwort haben die amerikanischen Psychologen Helen und John Watkins gefunden: Das »Ich« ist keine Einheit, es besteht vielmehr aus Teilen.Komplex traumatisierte Patienten machen diese Erfahrung des geteilten Selbst in radikaler Weise. Ihr Ich zerfällt häufig geradezu in die unterschiedlichsten Teilpersönlichkeiten. Täterintrojekte stehen neben dem verletzten kleinen Kind, Helferpersönlichkeiten koexistieren mit Opferanteilen. Der Autor zeigt an konkreten Beispielen aus der psychotherapeutischen Praxis, wie mit den unterschiedlichen Anteilen traumatisierter Patienten gearbeitet werden kann. Am Ende einer gelungenen Behandlung wird ein besser integriertes und damit gestärktes Selbst stehen, das schlimme Erfahrungen aus der Vergangenheit lebensgeschichtlich einordnen kann.
Autorenportrait
Jochen Peichl, Dr. med., war bis Ende 2010 Oberarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Nürnberg und ist jetzt in freier Praxis und als Leiter des Institutes für Hypno-analytische Teiletherapie InHAT tätig. Weiterbildung u. a. in Traumazentrierter Psychotherapie und Ego-State-Therapie; aktuelle Arbeitsschwerpunkte in Theorie und Praxis: Borderline -Störungen, Trauma-assoziierte und dissoziative Störungen.www.jochen-peichl.dewww.teiletherapie.de
Leseprobe
7. Die Bildung und Funktion traumabasierter Ego-StatesJoseph Santoro und Kollegen veröffentlichten schon im Jahre 1997 ein klinisches Modell der Borderline-Persönlichkeitsstörung, welches in seiner Klarheit noch bis heute Gültigkeit besitzt. Ihr sogenanntes »Equifinalitätsmodell der BPS« (Santoro et al. 1997) diskutiert die Rolle der traumatischen Umweltbedingungen im Leben eines Kindes (Faktor I), deren Auswirkung auf die neurobiologischen Prozesse auf dem Hintergrund konstitutioneller biologischer Verwundbarkeiten (Faktor II) für die Entstehung einer BPS. Mit »Equifinalität« meinen die Autoren, dass jeder Faktor für sich allein oder in Kombination das gleiche Ziel erreichen könne, nämlich die Herausbildung einer Persönlichkeitsstörung. Das Modell als grafische Darstellung zeigt Abbildung 7-1 auf S. 110.Für uns interessant ist vor allem der Faktor I, der sich mit den Folgen des traumatischen Stress in der frühen und späten Kindheit beschäftigt. Gemeint sind chronische Stress- und Alarmreaktionen des Säuglings oder Kindes auf dysfunktionale familiäre Kommunikationsstrukturen im Sinne kumulativer, sequenzieller Traumatisierung. Sie entstehen durch entwertende und feindselige Interaktionsmuster (siehe Lichtenberg 1990, Milch 1998) zwischen den Bezugspersonen und in Bezug auf das Kind und durch unvorhersehbare aversive Reaktionsmuster auf Regel- und Normenüberschreitungen, wobei diese Normen vom Erwachsenen willkürlich verändert werden können. Unter psychotraumatischem Stress lässt sich eine aversive, d. h. schwer erträgliche Situation verstehen, die bei einem Kind eine Schreck- und Angstreaktion auslöst, welche dazu führt, dass es sich in seiner psychologischen und physischen Sicherheit und Unversehrtheit bedroht fühlt. Gleichzeitig besteht keine Möglichkeit, der Quelle des aversiven Reizes durch Selbstschutz oder Flucht zu entkommen. Im Anfangsstadium einer unangenehmen und bedrohlichen Situation wird ein kleines Kind schreien, damit die umsorgende Person von der ablaufenden Bedrohung erfährt, d. h., das Bindungssystem wird im potenziellen Helfer aktiviert. Wenn sich dieser Zustand von psychotraumatischem Stress häufig wiederholt und somit das Reaktionsmuster generalisiert, dann kommt es zu Veränderungen im neurobiologischen Stresssystem (siehe Perry 1994, 1999, 2001; Perry et al. 1994, 1998; Schore 1994, 1996, 1998, 2000a + b + c, 2001a + b + c, 2002). Unglücklicherweise bringt aber das Schreien des misshandelten Kindes den Verursacher des Traumas kaum dazu, das Kind zu verteidigen oder für das Kind zu kämpfen - der Täter ist paradoxerweise gleichzeitig der ersehnte potenzielle Retter. In Abwesenheit eines liebevoll umsorgenden Elternteils und nach vielen bitteren Enttäuschungen wird das Kind das Schreien als Copingverhalten bei Bedrohung aufgeben und abhängig vom Alter des Kindes und der Art der Traumatisierung in das Hyperarousalkontinuum als einer kindlichen Variante der Kampf-Flucht-Reaktion oder ins dissoziative Kontinuum übergehen. Die Folge des Hyperarousal sind eine gesteigerte Schreckhaftigkeit, die ständige ängstliche Beobachtung der Umwelt auf bedrohliche Reize und eine verbesserte Fähigkeit, aus dem Verhalten, der Stimme oder der Mimik eines Gegenübers dessen potenzielle Gefährlichkeit und Neigung zur Grenzüberschreitung herauszulesen. Santoro nennt das die Entwicklung einer »relationship control phobia«, eine kreative kindliche Anpassungsleistung, die nach der Manifestation der BPS in der Spätpubertät sich als die Kriterien eins und zwei nach DSM-IV manifestieren:(1) Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.(2) Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.Diese fast schon paranoide Kontrolle der Umwelt verhindert den Aufbau eines Gefühles innerer Sicherheit und zerstört jegliches basales Urvertrauen. Die Grundannahme, dass alle Beziehung zu Außenstehenden zwar ersehnt, aber bedrohlich und überwältigend ist, wirkt sich natürlich auch auf die Herausbildung eines eigenen Selbstbildes aus: Das sich neuronal tief einbrennende negative Selbstbild ist die Übernahme dessen, was die anderen mir spiegeln - aus einem inneren Introjekt wurde durch Identifikation: ich bin dumm, böse, eine Last usw. Der für viele Borderline-Patienten typische Selbsthass ist aus der Identifikation mit dem negativen Selbst-Bild »ich bin böse« entstanden, die Kriterien drei und sieben der BPS nach DSM-IV.7.1 Die Identifikation mit dem Täter oder die Entstehung traumabezogener Ego-StatesDas Dilemma, welches den Kern der psychotraumatischen Erfahrung für das Kind darstellt, ist der innere Kampf zwischen Bindungsverhalten, d. h. Aufrechterhalten einer lebensnotwendigen Bindung, und der Schutzreaktion vor aversiven, überwältigenden Reizen. In dieser chronischen Notfallsituation bilden sich Ego-States, die in ihrer Funktion als Überlebensstrategie gesehen und gewürdigt werden müssen. Eine Form ist die Übernahme des Täters als Introjekt in den Innenraum, als sogenanntes Täterintrojekt. Schon Ferenczi (1930, 1933) hatte darüber geschrieben, dass die Wünsche des Täters zum Mittelpunkt der kindlichen Identität werden können: Seinen Bedürfnissen und Wünschen zu entsprechen, versprach Hoffnung auf Überleben. Aber sich so intensiv mit den destruktiven Absichten eines anderen zu beschäftigen, dem man bedingungslos ausgeliefert ist, sich innerlich an seine Stelle zu setzen, um seine Absichten zum besseren Selbstschutz zu erahnen, das hinterlässt intrapsychische Spuren: Der andere beginnt in uns zu leben, als Rollenbild, als Interaktionsmodell, als Täterintrojekt, als Imitat. Mit diesen Ego-States will ich mich nun beschäftigen: mit den gelebten Täter/hasserfüllt-States der Borderline-Patienten, d. h. mit der aktiven Imitation des Täters in der Beziehung zu anderen, insbesondere aber auch mit Täterintrojekten, die als vernichtende, verurteilende innere Instanzen das traumatisierte kindliche Selbst bedrängen, als sei in realer Abwesenheit des Täters dieser ständig präsent. Aber auch mit den sogenannten Opferintrojekten, der Übernahme der Opferposition in das vorherrschende Selbstbild eines Menschen nach traumatischen Erfahrungen. »Opfer sein« als eine Form der gelebten Identität, hinter der alle selbstbewusste Eigenständigkeit zu verschwinden droht. [...]
Inhalt
Einleitung: Wohin geht die Reise?1. Was Menschen Menschen antun können2. Das ödipale Dilemma2.1 Ein eindrucksvolles Beispiel: Kernberg spricht mit einer Patientin2.2 Unklare Begriffe3. Die Selbst-Familie oder der Ego-State-Ansatz nach Watkins3.1 Das multidimensionale Selbst3.2 Spurensuche3.3 Über Freud hinaus: Paul Federn und Edoardo Weiss3.4 Ego-State-Theorie: John and Helen Watkins3.5 Wie entstehen Ego-States?3.6 Die Vorteile der Ego-State-Therapie4. Die Innenwelt der Ego-States4.1 Der sogenannte Normalfall4.2 Ego-States - der Versuch einer funktionalen Beschreibung4.3 Unterschiedliche Kategorien von Ego-States4.3.1 Ego-States, die der Anpassung dienen4.3.2 Introjekte4.3.3 Traumabezogene Ego-States5. Dissoziation und Multiple Persönlichkeit5.1 Dissoziation5.2 Die Kaskade der Stressbewältigung5.3 Dissoziation, Traumaerfahrung und die Folgen5.4 Dissoziative Identitätsstörung: ein kurzer Abriss5.4.1 Ist die Dissoziation eine Krankheit?5.4.2 Zum Verständnis der einzelnen Teile des Selbst6. Die traumatisierte Selbstfamilie der Borderline-Patienten6.1 Borderline-Störung: was man davon wissen sollte6.2 Jeffrey Young: Kategorien der Ego-States bei den Borderline-Patienten6.3 Elizabeth Howell: eine spezielle psychische Organisationder Ego-States bei Borderline-Patienten6.4 Hypoarousal/Hyperarousal und die Opfer/masochistisch-und Täter/hasserfüllt-States bei Borderline-Patienten7. Die Bildung und Funktion traumabasierter Ego-States7.1 Die Identifikation mit dem Täter oder die Entstehung traumabezogener Ego-States7.2 Über Täter- und Opferintrojekte7.3 Die desorganisierte Bindung7.4 Die Strukturelle Dissoziation nach Ellert Nijenhuis7.4.1 Der emotionale Persönlichkeitsanteil: EP7.4.2 Der »anscheinend normale« Teil der Persönlichkeit7.4.3 Die Dimensionen der Strukturellen Dissoziation7.4.4 Das Handlungssystem, die masochistische und sadistische Abwehr7.5 Die inneren Verfolger: Fremdkörper im Selbst oder innere Helfer?7.5.1 Der innere Verfolger, Typ 1: das radikale Helfer-Ego-State7.5.2 Der innere Verfolger, Typ 2: das Täterintrojekt (täteridentifiziert)7.5.3 Der innere Verfolger, Typ 3: aggressive Ego-States7.5.4 Der innere Verfolger, Typ 4: Mittäterintrojekte (täterloyal)7.6 Die Schutzfunktion der Täterintrojekte nutzen8. Der sadistische und der nicht sadistische Täter8.1 Die Verhaltensstrategie nicht sadistischer Täter8.2 Die Verhaltensstrategie sadistischer Täter8.3 Die Entstehung unterschiedlicher Opfer-und Täterintrojekte8.3.1 Ego-State-Bildung bei nicht sadistischem Missbrauch8.3.2 Ego-State-Bildung bei sadistischem Missbrauch9. Die Praxis der Ego-State-Therapie:die Grundprinzipien von Brücke, Verschiebung und innerem Dialog10. Die Behandlungstechnik der Ego-State-Therapie bei traumabasierten Störungen10.1 Grundlegende Techniken der Ego-State-Therapie10.1.1 Nicht hypnotische Techniken10.1.2 Hypnotische Methoden des Zugangs10.2 Kontaktaufnahme mit Ego-States10.2.1 Ins System hineinsprechen10.2.2 Einen Ego-State herausrufen10.3 Die Planung der Behandlung traumabasierter Störungen nach dem SARI-Modell10.3.1 Die Phase der Sicherheit und Stabilisierung10.3.2 Schaffung eines Zugangs zum Traumamaterial und den damit verbundenen Ressourcen10.3.3 Die Auflösung der traumatischen Erfahrungen10.4 Integration der Traumaerfahrung in den Selbst- und Weltentwurf11. Spezielle Techniken der Ego-State-Therapie:Umgang mit Quälgeistern, inneren Verfolgern und Täterintrojekten11.1 Schurkenschrumpfen11.2 Innere Stimmen und die Bearbeitung ich-syntonerÜber-Ich-Botschaften11.3 Traumatische Introjekte: täteridentifizierte oder täterloyale Ego-States11.3.1 Umgang mit täteridentifizierten Ego-States11.3.2 Arbeit mit täterloyalen Introjekten11.3.3 Umgang mit aggressiven Reaktionen auf das Trauma12. Ausblick: meine Ego-State-PhilosophieAnhang 1 - 4Literatur
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