Beschreibung
Pluralisierung der Gesellschaft durch Ein- und Auswanderung, das Erstarken gegen Pluralität gerichteter Kräfte und die damit verbundenen Aushandlungen um Zugehörigkeit und gesellschaftliche Teilhabe charakterisieren die gegenwärtige Gesellschaft. Dieser Band versammelt innovative Stimmen zur zeitdiagnostischen Beschreibung der Gesellschaft als "postmigrantisch" und zu den zahlreichen damit verbundenen Transformationen.
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Autorenportrait
Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der HU Berlin. Juliane Karakayali ist Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Göttingen und am Georg-Eckert-Institut, Leibniz-Institut für Internationale Schulbuchforschung.
Leseprobe
Einleitung: Kritische Wissensproduktion zur postmigrantischen Gesellschaft Naika Foroutan, Juliane Karakayal? und Riem Spielhaus Die Geburt des Postmigrantischen Vor genau 10 Jahren erfand Shermin Langhoff mit dem Festival "Beyond Belonging" am Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) das postmigrantische Theater, und setzte damit einen Begriff, der weit über die Kunst- und Kulturszene hinauswirken würde (vgl. Langhoff in diesem Band). Seither verbreitete sich der Begriff in Sozial-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Geschichts- und Sprachwissenschaften, Politik und öffentlichem Raum. Inspiriert von der beginnenden Debatte um das Postmigrantische gründete sich 2010 der "Arbeitskreis Kritische Wissensproduktion in der postmigrantischen Gesellschaft", der von Wissenschaftler_innen gegründet wurde, die an der Schnittstelle von Migration, Rassismus und Islam forschten. So unterschiedlich die disziplinären, methodischen und theoretischen Zugänge der dort Versammelten auch waren, einte sie doch das Interesse an einer aktuellen Gesellschaftsanalyse, die Migration nicht zum Sonderfall, Mehrfachzugehörigkeit nicht zum Problem und Rassismus nicht zur Ausnahmeerscheinung erklärte. Dieser Arbeitskreis gab 2015 den Impuls für die Gründung der Sektion postmigrantische Gesellschaft im Rat für Migration, aus der heraus die vorliegende Publikation entstanden ist. Möglichkeiten eines neuen Begriffs Ziel dieses Bandes ist es, aus unterschiedlichen Disziplinen heraus und anhand unterschiedlicher Gegenstände der Frage nachzugehen, was sich mit einer "postmigrantischen Perspektive" an neuen Einsichten gewinnen lässt. Damit reiht sich der Band ein in eine breitere, von verschiedenen Kolleg_innen an unterschiedlichen Orten begonnene Suche nach einem angemessenen Begriff zur Beschreibung der aktuellen gesellschaftlichen Situation (vgl. Espahangizi u.a. 2016; Foroutan u.a. 2014, 2016; Tsianos/Karakayal? 2014; Römhild 2017; Y?ld?z 2013, 2014; kritisch: Mecheril 2013). Gemeinsamer Ausgangspunkt dieser Suchbewegung ist dabei auch eine Kritik an wissenschaftlicher Beschäftigung mit Migration, die Wanderung vorrangig problematisiert und binäre Kategorien verfestigt und dadurch dazu beiträgt, "Migrationsandere" zu schaffen (vgl. Mecheril 2003), die wiederum im öffentlichen Diskurs als defizitär, vormodern und demokratiegefährdend adressiert werden. Diese reduktionistische Wissensproduktion zu Migration, Migrant_innen und Migrantisierten hat in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Disziplinen stattgefunden, obgleich eine wirklich eigenständige Migrationsforschung in Deutschland noch vergleichsweise jung ist. Die Beiträge des vorliegenden Bandes dagegen verstehen Migration nicht als wissenschaftliches Sonderthema, sondern fragen nach der Bedeutung von Migration und den Debatten über als Migration Thematisiertes für die gesamte Gesellschaft. Dahinter steht der Wunsch nach einem Perspektivwechsel ebenso wie der nach Reflektion über diskursive Figurationen. Der Begriff "post"migrantisch wurde bereits vielfältig - insbesondere semantisch - dafür kritisiert, das "post" sei als ein "nach der Migration" zu verstehen und erkläre grenzüberschreitende Wanderung, Flucht oder Mobilität damit für beendet. Das Präfix "post" verweise zudem immer auf eine Distanzierung vom Substantiv und könnte so als Distanzierung von Migration verstanden werden (vgl. Mecheril 2014). Tatsächlich erlaubt und beabsichtigt das "post" im Postmigrantischen jedoch eine Distanzierung nicht von Migration, sondern von der oben geschilderten Analyse von Migration als Bedrohung, Verfremdung und Ausnahmezustand. Das "post" intendiert, für Irritation zu sorgen, um mit dem hegemonialen Sprechen über Migration zu brechen. Die Unbestimmtheit des Begriffs - auch diese aus der Sicht mancher ein Defizit - macht ihn so geeignet als Dach, unter dem sich temporär verschiedene Ansätze sammeln und zueinander in Beziehung setzen können. Oder, wie Kijan Espahangizi (2016) es formuliert: "Um das Postmigrantische zu verstehen, reicht es nicht, danach zu fragen, was das Wort bedeutet, man muss vielmehr empirisch nachvollziehen, was es tut." So unterschiedlich die wissenschaftlichen Zugänge zum Postmigrantischen sind, weisen sie doch einige Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Prämissen, Perspektiven und Gegenstände auf. Ein zentraler Bezugspunkt von Überlegungen zur postmigrantischen Gesellschaft sind zum einen Geschichte und Gegenwart der Migration, die zu einer empirisch messbar veränderten, pluralisierten Zusammensetzung der Gesellschaften in Europa geführt hat und zum anderen der Diskurs über Phänomene und Entwicklungen, die als Migration verhandelt werden. Perspektiven Der erste Teil des Bandes widmet sich darum den Möglichkeiten der Überschreitung binärer Zuschreibungen. Mit der Frage der Selbstverständlichkeit von Migration als gesellschaftlichem Bezugspunkt beschäftigt sich der Beitrag von Erol Y?ld?z, der sowohl für die Wissenschaft als auch gesamt-gesellschaftlich eine Perspektive eröffnet, die aus der Zirkularität und Reproduktion binärer Zuschreibungen hinausweist. Y?ld?z zeigt auf, wie der Bezug auf das postmigrantische die Möglichkeit neuer Formen von Konvivialität gerade auch auf der Ebene des Urbanen sichtbar macht. Kijan Espahangizi geht für die Schweiz aus einer historiografischen Perspektive der Frage nach, ab wann eine Gesellschaft eigentlich als postmigrantisch gelten kann. Er beschäftigt sich in diesem Kontext mit den politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Migration seit den 1950er Jahren und kommt zu dem Schluss, dass der Konflikt um Migration ebenso auf eine postmigrantische Situation verweist, wie eine positive Anerkennung der Tatsache der Migration. Diese Überlegungen überschneiden sich mit denen Magdalena Nowickas, die analysiert, inwiefern der Begriff des Postmigrantischen die Kriterien einer Zeitdiagnose erfüllt und welche Potentiale der Begriff für eine Normalisierung des Umgangs mit Migration im öffentlichen Diskurs birgt. Regina Römhild lotet analog dazu aus, welche Bedeutung das Konzept des Postmigrantischen entfalten kann, wenn es auf Europa bezogen wird und schlägt damit eine Brücke zur kritischen Europäisierungsforschung, die insbesondere die Bedeutung des Kolonialismus für die Konstitution Europas fokussiert. Auf Migration fokussierte Zuschreibungen erzeugen immer neue Formen von Ein- und Ausschluss. Gerade deshalb ist die personalisierte Bezeichnung "Postmigrant" als neuer Name, als unverbrauchtes Wort für "Andersheit" in Physiognomie, Akzent oder Familiengeschichte wenig erstrebenswert. Regina Römhild und Manuela Bojadzijev weisen darauf hin, dass eine solche Nutzung Gefahr läuft, doch "wieder nur dem alten Label zu neuem Leben zu verhelfen, das dann vor allem junge (Post)MigrantInnen der x-ten Generation einschließt." (vgl. 2014: 18). Eben diese Perspektive macht Moritz Schramm in der Litertaturwissenschaft aus und warnt davor, das Label postmigrantisch auf Autor_innen anzuwenden, die einen irgendwie gearteten biographischen Bezug zu Migration aufweisen. Vielmehr eigne sich postmigrantisch als Bezeichnung für eine Binaritäten und Essentialismen überwindende Literatur, in der Migration und Migrationserfahrung selbstverständliche Topoi seien. Ordnungssysteme Mit den bis hierher zitierten Perspektiven, die insbesondere die Aufhebung von Binaritäten und die Pluralisierung der Gesellschaft zum Ausgangspunkt nehmen, stellt sich die Frage, wie sich die postmigrantische Gesellschaft in ihrer Diversität abbilden lässt. Mit dieser Frage beschäftigen sich die Beiträge des zweiten Teils dieses Bandes. Ein Beispiel hierfür ist die Kategorie "mit Migrationshintergrund", die 2005 in den Mikrozensus aufgenommen wurde und seither Gegenstand heftiger Kontroversen ist: Einerseits scheint diese Kategorie der erfolgten Migration Rechnung zu tragen. Sie ermöglicht es, familiäre Einwanderungserfahrungen auch über die erste Generation hinaus statistisch abzubilden. Dies erscheint sinnvoll, ...