Beschreibung
Der Tastsinn fordert Kultur- und Medientheorie heraus. Er pendelt in der Philosophie sowie in seiner wissenschaftlichen Erforschung zwischen zwei Polen: Zum einen wurde er routinemäßig erkenntnistheoretisch zugunsten der Fernsinne abgewertet. Im Tasten droht das Sinnliche die Erkenntnis zu überrumpeln, dem Subjekt nur vermischte Eindrücke zuzuspielen. Zum anderen lässt sich die Geschichte einer abendländischen "Haptometaphysik" (Jacques Derrida) nachzeichnen, in der dem Tastsinn eine privilegierte Stellung im Zugang zur Wahrheit zukommt. Die Berührung fungiert hier als letzte Instanz der Gewissheit. In wissenshistorischen, kunstwissenschaftlichen und medientheoretischen Zugängen lotet das Buch die ästhetischen und erkenntnisbezogenen Potenziale des Tastsinns aus. Zwei Bildstrecken (Markus Burgstaller und Nico J. Weber) erproben darüber hinaus, wie es um die Kontaktfreudigkeit von Bildern bestellt ist.
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Autorenportrait
Karin Harrasser ist Professorin für Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz.
Leseprobe
Einleitung Karin Harrasser Dies ist ein oberflächliches Buch. Es folgt dem von Antoine Hennion in seinem Essay über die Kunst der Berührung formulierten Credo: "Um zum Kern der Dinge zu gelangen, muss man an ihrer Oberfläche bleiben."1 Es sind allerdings keine glatten Oberflächen, denen die AutorInnen nachgehen, sondern komplizierte, mehrdimensionale Verschichtungen von Oberflächen, die als Medien fungieren. Ohne Netzhaut kein Seheindruck, ohne Trommelfell kein Hören, ohne Zungenoberfläche kein Schmecken, ohne Schleimhaut kein Riechen. All diese Häute, die Kontakt mit der Welt ermöglichen, indem sie eine Grenze zu ihr bilden, die sich aufspannen, um Signale einzufangen, sind hier von Interesse. Der Großteil der Häute, die aus unzähligen Eindrücken eine bestimmte Klasse, die wir dann Geruch, Gehör, Sehen, Fühlen nennen, herausfiltern und der Verarbeitung zuführen, liegen gut geschützt im Körperinneren. Sie werden bedeckt von weiteren Häuten, aber auch von mechanischen Vorrichtungen, die sich verschließen können, von vorgelagerten Höhlen und Gängen. Einzig ein riesiges Organ, dasjenige, das wir generisch Haut nennen, liegt offen da, bedeckt und geschützt freilich durch menschengefertigte Hüllen. Manche von ihnen stammen von Tieren, manche sind in Laboren und Fabriken (sehr häufig unter schrecklichen Bedingungen im globalen Süden) gemacht worden, andere - etwa die kratzige Wolle meines Pullovers aus Irland - sind von Hand bearbeitet worden. Die Geschichte der Textilien ist ebenso vielschichtig und subtil, wie ihre politische Ökonomie typisch für eine neokoloniale Weltordnung ist. Aufgrund ihrer Nachgiebigkeit, ihrer vielfältigen Erregbarkeit und ihrer topologischen Architektur ist die Haut die größte Kontaktzone zur Außenwelt und macht uns gleichzeitig besonders verletzlich: Die Hautbarriere ist nicht sehr stabil und sie ist - dem geht dieses Buch nach - fundamental medial verfasst. Medial meint nicht nur ihre physiologische Vermittlungsleistung, sondern auch, dass die Berührungsempfindung nie einfach da ist, sondern im Hin- und Her zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Organischem und Anorganischem, zwischen freundlichen und schmerzlichen Reizen, zwischen historisch gewordenen Gegebenheiten und je neuer Erfahrung eine Moirierung erfährt, wie es Michel Serres2 ausdrückt. Als "Vorposten des Subjektes"3 prägt sie Empfindsamkeitszonen (Marie-Luise Angerer) aus. Wann spüren Sie, oder spüren Sie nicht, die Berührung durch den Wind, durch die Kleidung, durch Regen, eine habitualisierte Selbstberührung? Die Haut ist eine Landkarte der Erfahrungen, desjenigen, was uns zugestoßen ist. Denn die Berührung ist das, was sich der Kontrolle entzieht, sie ist pathisch. Gerade deshalb sind die taktilen Empfindungslandschaften einzelner Gattungswesen so unterschiedlich wie ihre Geschichte und ihre Geschichten. Die Haut erzählt die Geschichte des Leibes, aber sie rückt sie nicht so leicht heraus. Die Haut gehört einem Selbst auf intime Weise an und sie gehört diesem Selbst auch nicht an, bildet sein Außen. In der Selbstberührung ist sie wahrnehmbar, allerdings in einem eigentümlichen Modus: Der Finger, der die Handfläche berührt, spürt diese und sich selbst mit. Die taktile Empfindung zwischen lebendigen Wesen ist deshalb eine der wechselseitigen Mitempfindung/Selbstempfindung, eine, die jederzeit von Lust in Schmerz umschlagen kann und sie ist in ihrer Oberflächlichkeit reziprok: keine Empathie, keine Einfühlung des Einen in den Anderen, sondern eine Verfangung, wie es Katrin Solhdju in ihrem Beitrag nennt. Die Beiträge dieses Buches sind auf der Suche nach Begriffen, Konstellationen, Narrativen diesseits von essentialisierenden und denunzierenden Einordnungen des Tastsinns. So mag es stimmen, dass die europäische Philosophie grosso modo das Sehen, den Überblick und die Perspektive betont hat, wenn es um Erkenntnis ging, und das Tasten als subjektiv, zu ungenau, zu gefährlich nah an der Lust eher an den Rand gestellt hat. Die weitverbreitete These vom "Okularzentrismus" (also einer Zentrierung der abendländischen Kultur auf den Sehsinn, die sowohl Wissen als auch Ästhetik als auch Subjektbildung betrifft) ist jedoch, das zeigen die Beiträge dieses Bandes, zu schematisch. Die reflexhafte Assoziation des Tastsinns mit Authentizität und dem Vordiskursiven verkennt die vielfältigen Verflechtungen der Sinneseindrücke untereinander genauso wie die Rolle als agent provocateur, die der Tastsinn in der abendländischen Philosophie gespielt hat. So hat Jacques Derrida dargelegt, dass die vordergründige Privilegierung des Sehsinns systematisch mit dem Hautsinn in Verbindung steht. Der Platonismus der Scheinbilder sei durch ein Möbiusband mit einer "Hapto-Metaphysik" verbunden: Die physische oder geistige Berührung, z.?B. die Intuition oder die Erleuchtung, fungiert schon seit der Antike als Wahrheits- und Wirklichkeitsgarant. Das kann eine exklusive Begegnung mit dem Göttlichen sein oder auch Beglaubigungseffekte des Getroffenwerdens. Die Privilegierung des Sehens, des kritischen Unterscheidens, ist dementsprechend gar nicht denkbar ohne die Annahme einer tieferen Wahrheit der Berührung.4 Detlev Thiel setzt sich in seinem Beitrag mit einem inzwischen nicht mehr sehr bekannten Philosophen auseinander, der um die Wende zum 20. Jahrhundert einen Denkweg eingeschlagen hatte, der mit Jacques Derridas Studien zur Taktilität als Grenzerfahrung an manchen Punkten koinzidiert: Der Neukantianer Ernst Marcus entwickelte das Konzept der "exzentrischen Empfindung", eine von damals weit verbreiteten Projektionsthesen scharf unterschiedene Wahrnehmungstheorie, dergemäß die Sinnesorgane dazu in der Lage sind, über sich hinauszugreifen und die Gegenstände faktisch zu berühren. Das Sehorgan berührt laut Marcus also tatsächlich die Sterne. Wahrnehmung als Ganze operiert demzufolge taktil, eine Idee, die durch die historischen Avantgarden (z.?B. Raoul Hausmann) fröhlich aufgegriffen und weitergesponnen wurde. Ich meine, man könnte eine Geschichte der Theorie der Medien und der Künste im 20. Jahrhundert vom Tasten, Greifen, Angreifen, Berühren und Projizieren her schreiben. Denn in beiden Bereichen, den Medientechniken und den Künsten, geht es zunehmend darum, das Verhältnis zwischen Biologik und Technologik auszuloten und den politischen Charakter dieser Verhältnisse zu begreifen. Den Tastsinn in seiner Medialität zu untersuchen, heißt ihn gerade nicht als einen Retter in der abendländischen Not, als Retter vor der Austreibung des Konkreten, des Nahen, des Sinnlich-Körperlichen aus der Erkenntnis zu untersuchen. Was in diesem Band interessiert, ist das Potential des Haptischen und des Taktilen, komplizierte und polyvalente Beziehungen zu stiften: zu verbinden, was er trennt, Fremd- und Selbstbezüge in ein Verhältnis zu setzen, Innen und Außen zu reorganisieren, Affekte zu modulieren und Wahrnehmung zu transformieren. Der Tastsinn ist nicht nur bezogen auf Innen und Außen des Leibes ein Vermittler, sondern er vermittelt auch zwischen den Sinnen. Schon bei Aristoteles ist er als koiné aísthesis (Allgemeinsinn) angesprochen, als derjenige Sinn, der die Unterscheidung der sinnlichen Wahrnehmungen ermöglicht, ein in der Sinnlichkeit vollzogenes Differenzierungs- und Synthetisierungsvermögen (vgl. dazu meinen Beitrag in diesem Band). Dass Gertrud Kochs viel gelesener Beitrag von 1997 zum verkörperten Sehen von Film/Bildern, der eine erste Hochzeit "performativer" Ansätze in Kultur- und Medienwissenschaft markiert, den Titel "Netzhautsex" trägt, war die Motivation, ihn hier noch einmal abzudrucken. Als Erinnerung daran, dass Soma, Leib und Sinnlichkeit nicht erst seit kurzem am Tisch der Kultur- und Medienwissenschaften Platz genommen haben, sondern schon seit langem systematische Verwirbelungen in unseren Fächern erzeugen. Die Haut des Films mag es in seiner klassischen Form nicht mehr geben, das Changieren des Abbilds des nackten Körpers zwischen gefährlicher Nähe und voyeuristischer Distanz ist...