Beschreibung
Wie gelangen wir zu unseren Entscheidungen, und warum liegen wir so oft daneben? Daniel Kahneman war sich immer sicher, dass er sich irrte. Amos Tversky war sich immer sicher, dass er recht hatte. Der eine nimmt alles ernst, für den anderen ist das Leben ein Spaß. Die beiden weltberühmten Psychologen und Begründer der Verhaltensökonomie haben mit ihrer gemeinsamen Forschung unsere Annahmen über Entscheidungsprozesse völlig auf den Kopf gestellt. Michael Lewis entspinnt entlang zweier filmreifer Figuren eine fesselnde Geschichte über menschliches Denken in unkalkulierbaren Situationen und die Macht der Algorithmen. In seiner genialen Erzählung führt uns Lewis an die Grenzen unserer Entscheidungen.
Autorenportrait
Michael Lewis ist New-York-Times-Nr. 1-Bestsellerautor. In seinem ersten Buch "Liar's Poker" verarbeitete er seine Erfahrungen als Investmentbanker. 2003 erschien sein Bestseller "Moneyball", der 2011 mit Brad Pitt in der Hauptrolle verfilmt wurde, ein Buch über ein Baseballteam, das seine Spieler nach mathematischen Regeln beurteilt. Es folgten bei Campus u.a. "The Big Short", das auch als Kinofilm Furore machte, und zuletzt "Flash Boys", das ebenfalls in Hollywood verfilmt wird. Lewis lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Berkeley, Kalifornien.
Leseprobe
2 Der Außenseiter Daniel Kahneman war ein Mann mit vielen Zweifeln, aber der sonderbarste betraf sein Gedächtnis. Er hatte ganze Vorlesungsreihen aus dem Kopf gehalten. Seine Studenten hatten den Eindruck, er kenne die gesamte Fachliteratur auswendig, und nicht weniger verlangte er von ihnen. Aber wenn man ihn nach einem vergangenen Ereignis fragte, dann antwortete er, dass er seinem Gedächtnis nicht traue und dass man seinem eigenen ebenso nicht trauen solle. Vielleicht war das nur Teil seiner lebenslangen Strategie, sich selbst zu misstrauen. "Wenn es ein Gefühl gibt, das ihn definiert, dann ist das der Zweifel", sagt einer seiner ehemaligen Studenten. "Deshalb fragt er immer weiter und bohrt immer tiefer." Oder vielleicht war es auch nur ein Schutz gegen neugierige Frager, die ihn verstehen wollten. Wie dem auch sei, Kahneman hielt großen Abstand zu den Ereignissen und Kräften, die ihn geprägt hatten. Auch wenn er seinen Erinnerungen misstraute, blieben ihm noch einige. Zum Beispiel daran, wie er Ende 1941 oder Anfang 1942 - jedenfalls ein gutes Jahr nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris - nach der Sperrstunde auf der Straße aufgegriffen wurde. Die neuen Gesetze verlangten von ihm, den gelben Davidstern auf seinem Pullover zu tragen. Das Symbol beschämte ihn so, dass er eine halbe Stunde früher zur Schule ging, damit die anderen Kinder ihn nicht sahen, wie er das Schulgebäude betrat. Und ehe er sich auf den Heimweg machte, drehte er seinen Pullover auf links. Als er eines Abends nach Hause ging, kam ein deutscher Soldat auf ihn zu. "Er trug die schwarze Uniform, die ich mehr fürchtete als die anderen - es war die Uniform der SS", erinnerte er sich in einer biografischen Skizze für das Nobelpreiskomitee. "Ich beschleunigte meine Schritte, doch ich bemerkte, dass er mich aufmerksam ansah. Dann winkte er mich zu sich, hob mich hoch und umarmte mich. Ich hatte Angst, dass er den Stern in meinem Pullover entdecken könnte. Aufgewühlt redete er auf Deutsch auf mich ein. Dann setzte er mich ab, zog seine Geldbörse heraus, zeigte mir das Foto eines Jungen und drückte mir ein paar Münzen in die Hand. Als ich nach Hause ging, war ich so sicher wie nie, dass meine Mutter recht hatte: Menschen waren unendlich kompliziert und interessant." Er erinnerte sich auch an den Anblick seines Vaters, nachdem dieser in einer großen Verhaftungswelle im November 1941 abgeholt worden war. Tausende Juden wurden zusammengetrieben und in Lager transportiert. Mit seiner Mutter verband Daniel ein kompliziertes Verhältnis, aber seinen Vater liebte er ganz einfach. "Mein Vater leuchtete - er hatte großen Charme." Er wurde in dem Sammellager in Drancy vor den Toren von Paris interniert. In einer Wohnanlage, die für siebenhundert Mieter ausgelegt war, lebten zeitweilig mehr als siebentausend Juden zusammengepfercht. "Ich erinnere mich, wie ich und meine Mutter ihn da besucht haben. Das Gebäude war irgendwie rosa-orange. Es waren eine Menge Leute da, aber man konnte keine Gesichter sehen. Man konnte Frauen und Kinder hören. Und ich erinnere mich an einen Wächter, der sagte: Es ist hart da drin. Sie essen Kartoffelschalen." Für die meisten Juden war Drancy nur eine Station auf dem Weg in ein Konzentrationslager: Nach ihrer Ankunft wurden Kinder von ihren Müttern getrennt und in Zügen Richtung Osteuropa gebracht, um schließlich in Auschwitz vergast zu werden. Daniels Vater wurde nach sechs Wochen entlassen, dank seiner Verbindung zu Eugène Schueller. Schueller war Gründer und Chef des französischen Kosmetikherstellers L'Oréal, wo Daniels Vater als Chemiker arbeitete. Später kam heraus, dass Schueller einer der Architekten einer Organisation war, die den Nationalsozialisten bei der Aufspürung und schließlichen Ermordung französischer Juden half. Bei seinem Star-Chemiker machte er allerdings eine Ausnahme: Er überzeugte die Deutschen, dass Daniels Vater "entscheidend für die Kriegsanstrengungen" sei, und so wurde er wieder nach Paris geschickt. An diesen Tag erinnert sich Daniel noch lebhaft. "Wir haben gewusst, dass er nach Hause kommt, und sind einkaufen gegangen. Als wir wiedergekommen sind, haben wir an der Tür geklingelt, und er hat aufgemacht. Er hat seinen besten Anzug getragen. Er hat 49 Kilo gewogen und bestand nur noch aus Haut und Knochen. Aber er hatte noch nichts gegessen. Das hat mich am meisten beeindruckt. Dass er mit dem Essen auf uns gewartet hat." Weil sie einsehen mussten, dass selbst Schueller sie nicht schützen konnte, flohen sie aus Paris. Die Grenzen waren inzwischen geschlossen, und es gab keine Möglichkeit, an einen sicheren Ort zu gelangen. Daniel, seine ältere Schwester Ruth und seine Eltern Ephraim und Rachel flohen in den Süden, der nominell von der Vichy-Regierung verwaltet wurde. Unterwegs versteckten sie sich in Scheunen und entkamen mehrmals nur knapp einer Verhaftung. Noch in Paris hatte sein Vater falsche Ausweise besorgt, die leider Rechtschreibfehler enthielten. Daniel, seine Schwester und seine Mutter hießen "Cadet", aber sein Vater hatten den Nachnamen "Godet" erhalten. Um nicht aufzufliegen, musste Daniel seinen Vater mit "Onkel" ansprechen. Außerdem musste er für seine Mutter sprechen, deren erste Sprache Jiddisch war und die Französisch mit deutlichem Akzent sprach. Es war sonderbar, seine Mutter schweigen zu sehen, denn sie war eine Frau, die ansonsten sehr viel zu sagen hatte. Sie gab ihrem Mann die Schuld für ihre Lage. Sie waren nur deshalb in Paris geblieben, weil er sich von seinen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg hatte täuschen lassen. Damals sind die Deutschen nicht bis nach Paris gekommen, hatte er gesagt, also werden sie es diesmal auch nicht schaffen. Sie war anderer Ansicht gewesen. "Schon lange vor ihm hatte meine Mutter den Schrecken kommen sehen - sie war Pessimistin und hat sich um alles Sorgen gemacht, aber er war Optimist und hatte ein sonniges Gemüt." Schon damals spürte Daniel, dass er seiner Mutter ähnelte. Seine Haltung zu sich selbst war kompliziert. Zu Beginn des Winters 1942 lebten sie in großer Furcht in einem Küstenstädtchen namens Juan-les-Pins. Sie lebten in Angst. Dank des Kollaborateurs hatten sie ein eigenes Haus mit einem Labor, in dem Daniels Vater weiter arbeiten konnte. Um nicht aufzufallen, schickten die Eltern Daniel zur Schule, doch sie warnten ihn, möglichst den Mund zu halten, um nicht allzu intelligent zu erscheinen. "Sie hatten Angst, dass man mich als Juden erkennen könnte." Solange er zurückdenken konnte, hatte er sich immer für einen frühreifen Bücherwurm gehalten. Zu seinem Körper hatte er wenig Bezug. Im Sportunterricht war er so schlecht, dass ihn Mitschüler später als "die lebende Leiche" bezeichnen sollten. Ein Sportlehrer verhinderte einmal, dass er eine akademische Auszeichnung erhielt, mit der Begründung "es hat alles seine Grenzen". Doch sein Gehirn war stark und beweglich. Seit er zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte, was er als Erwachsener werden wollte, ging er davon aus, dass er ganz einfach ein Intellektueller sein würde. Das war das Bild, das er von sich selbst hatte: ein Gehirn ohne Körper. Nun hatte er ein neues Bild: ein gejagter Hase. Nun ging es nur noch ums Überleben. Ab dem 11. November 1942 besetzten die Deutschen auch den Süden Frankreichs. Deutsche Soldaten in schwarzen Uniformen zerrten Männer aus Bussen und zogen sie aus, um zu sehen, ob sie beschnitten waren. "Wer erwischt wurde, war tot", erinnert sich Daniel. Sein Vater glaubte nicht an Gott. Als junger Mann hatte er seinem Geburtsland Litauen und einer Ahnenreihe illustrer Rabbiner den Rücken gekehrt und war nach Paris gegangen. Daniel war noch nicht bereit, den Glauben an eine fürsorgliche Macht im Universum aufzugeben: "Ich schlief unter demselben Moskitonetz wie meine Eltern. Sie lagen in einem großen Bett, ich in einem kleinen. Ich war neun. Ich habe zu Gott gebetet und gesagt, ich weiß, dass du sehr beschäftigt bist und dass die Zeiten schwer sind. Ich habe keine große Bi...