Beschreibung
Der Herbst 2015 setzte eine Zäsur in Deutschland. Wie kein anderes Ereignis hat die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge die Solidarbereitschaft vieler Menschen vor Augen geführt - ebenso wie die jahrelange "organisierte Nichtverantwortung " der Europäischen Union. Doch spätestens seit den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht ist die "Willkommenskultur" hitzigen Debatten und explosiven Stimmungen gewichen. Rechtsradikale Gruppen überall in Europa nutzen die komplizierte Situation, um rückwärtsgewandte und vermeintlich einfache Lösungen anzubieten. Von der Flucht über das Ankommen bis zur gesellschaftlichen Teilhabe ist es ein weiter Weg. Ludger Pries vollzieht in seinem Buch die einzelnen Etappen nach. Dabei hat er die Flüchtlinge als Akteure, die Engagierten in der Zivilbevölkerung sowie die nationalen und europäischen Flüchtlingssysteme im Blick. Die "Flüchtlingskrise" bedeutet eben nicht nur eine Zerreißprobe für Europa, sie birgt auch die Chance, in einer globalisierten Welt ein europäisches Gesellschaftsprojekt zu schärfen. Für die Flüchtlinge und für die in Deutschland bereits lebenden unterschiedlichen Gruppen ist es die historische Gelegenheit, besser in Deutschland, in Europa und bei sich selbst anzukommen.
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Autorenportrait
Ludger Pries ist Professor für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2011 bis 2015 war er Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Zurzeit hat er den Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhl an El Colegio de México in Mexiko-Stadt inne.
Leseprobe
Einleitung Was im Herbst 2015 in Deutschland geschah, war mehr als das Wogen großer Flüchtlingswellen. Zeitweise waren nicht nur die territorialen Außengrenzen, sondern auch die Grenzen der Gastfreundschaft außer Kraft gesetzt. Die herzlichen Begrüßungen im September am Münchner Hauptbahnhof oder bei der Ankunft in anderen großen Städten waren ebenso Teil einer stillen Revolution wie die bereits seit vielen Jahren organisierten Hilfs- und Willkommensaktionen. Hunderttausende engagierten sich beim Kleiderverteilen, beim Herrichten von Unterkünften, in Sprachkursen und bei Amtsgängen, Sportangeboten und Kulturaktivitäten für Flüchtlinge. Sie gaben den Flüchtlingen das deutliche Signal: Ihr seid jetzt in Sicherheit. Ihr seid hier willkommen und angekommen. Seit Jahrzehnten, vielleicht seit den Bürgerinitiativbewegungen der 1980er Jahre, gab es kein so breites öffentliches Engagement. Presse, Fernsehen und Internet waren über Monate vom Flüchtlingsthema beherrscht. Dieser Empfang der Flüchtlinge durch die Zivilgesellschaft war vor allem eine spontane Geste der Menschlichkeit und der Solidarität. Er verdeutlichte aber auch, dass weder die Politik noch die öffentliche Verwaltung auf die Zahl der Schutzsuchenden vorbereitet waren. Angesichts der enormen Herausforderungen - von der Unterbringung bis hin zur Organisation geordneter Asylverfahren - sowie der spontanen und aus der Mitte der Gesellschaft kommenden Hilfsbereitschaft begann auch das politische System sich zu bewegen. Mutig und konsequent hatte Angela Merkel bereits am 31. August 2015 auf der Bundespressekonferenz erklärt: "Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!" Hunderte von Bürgermeistern und Tausende von öffentlichen Einrichtungen engagierten sich tatkräftig in diesem Sinne. In kürzester Zeit ging ein neues Bild vom solidarischen Deutschland um die Welt. Das weckte sicherlich auch bei vielen Flüchtlingen Hoffnungen auf ein gelingendes Ankommen. Schon im Oktober 2015 wurden jedoch auch die mit der Flüchtlingsbewegung verbundenen Schwierigkeiten deutlich. Statt der zuversichtlichen Feststellung "Wir schaffen das" hörte man immer häufiger die skeptische Frage "Schaffen wir das?". Auch die Zerstrittenheit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) zeigte sich deutlich. Länder wie Ungarn und Tschechien machten die deutsche Bundeskanzlerin für den nicht endenden Zuzug von Flüchtlingen verantwortlich. Ihre Politik des "Wir schaffen das" habe die in Syrien, der Türkei oder Griechenland wartenden Flüchtlinge geradezu ermuntert, nach Westeuropa und Deutschland zu kommen. Die Städte und Kommunen formulierten immer lauter, dass sie an die Grenzen einer geordneten Aufnahme und Behandlung der Asylsuchenden gekommen seien. In Flüchtlingsunterkünften kam es zu teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen. Rechtspopulistische Parteien und Organisationen sahen ihre Chance gekommen und zündelten mit Vorurteilen und Ängsten. Wie Deutschland mit den Herausforderungen der Flüchtlingseinwanderung des Jahres 2015 umgeht, entscheidet nicht nur über die unmittelbare Zukunft der direkt betroffenen Menschen, sondern auch über das längerfristige Selbstverständnis der Gesellschaft. Denn indem so viele Menschen in Deutschland die Flüchtlinge willkommen hießen und ihnen signalisierten "Ihr seid angekommen", öffnete sich auch ein historisches Fenster für die Gesellschaft in Deutschland, nachhaltiger bei sich selber anzukommen. Viele Menschen erklärten, sie seien zum ersten Mal stolz auf das Land, in dem sie lebten. Angesichts der Kritik von Politikern aus Deutschland und anderen EU-Mitgliedsstaaten erklärte die Bundeskanzlerin Mitte September 2015: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ein halbes Jahrhundert lang das "Mantra der defensiven Erkenntnisverweigerung Deutschland ist kein Einwanderungsland" (Bade 2001: 1) dominiert. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurde nach und nach die kognitive Rahmung mehrheitsfähig, dass Deutschland ein plurikulturelles Einwanderungsland sei. Die veränderte Selbstbeschreibung als eines aus vielfältigen kulturellen Strömungen und Wanderungsbewegungen hervorgegangenen gesellschaftlichen Ganzen eröffnet zusammen mit der neuen Flüchtlingsbewegung enorme Chancen des Ankommens - nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für viele der in diesem Land lebenden Gruppen. Denn geht man nur ein bis zwei Generationen zurück, finden sich in fast allen Familien in Deutschland Erfahrungen von Vertreibung, Flucht, Migration und - gelungenem, verwehrten oder verpassten - Ankommen. Die neue Flüchtlingseinwanderung ermöglicht auch eine Art Katharsis für die schon in Deutschland Lebenden, die eigenen (Familien-)Erfahrungen aufzuarbeiten. Denn nach den Verheerungen des NS-Regimes dominierte nicht nur eine "Unfähigkeit zu trauern" (Mitscherlich/Mitscherlich 1976), sondern es herrschte auch ein allgemeines Klima des historischen und biografischen Verdrängens und Vergessens. Die mehr als eine Million Menschen, die im Jahre 2015 als Flüchtlinge nach Deutschland kamen und Schutz suchten,1 die Art und Weise, wie die Hunderttausenden Hilfsbereiten sie hier empfingen, könnten die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Landes fundamental verändern. Damit sind Chancen, aber auch Herausforderungen der Entwicklung in Deutschland verbunden - und ebenso in einem stärker vereinten oder wieder auseinanderdriftenden Europa. So wird der gesellschaftliche Umgang mit der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 das Gesicht von Deutschland und Europa im 21. Jahrhundert nachhaltiger prägen als etwa das politische Management von Finanzkrisen einzelner EU-Mitgliedsländer. Indem Zivilgesellschaft, staatliche Strukturen, Nichtregierungsorganisationen und die Politik aushandeln, wie mit den eingewanderten Flüchtlingen umzugehen sei, wird zugleich auch das gesellschaftliche Selbstverständnis neu definiert: Sind die Normen des Flüchtlingsschutzes unverrückbarer Bestandteil des europäischen Projekts oder Spielball politischer Konjunkturen? Finden Deutschland und die EU einen Weg aus der organisierten Nicht-Verantwortung?2 Wie kann das Ankommen nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für andere, schon länger in Deutschland lebende gesellschaftliche Gruppen erreicht werden? Das Ziel dieses Buches ist es, ein tieferes Verständnis für diese grundlegenden Veränderungsprozesse und die damit verbundenen Herausforderungen und Weichenstellungen zu vermitteln. Gerade weil es um wesentlich mehr als nur kurzfristiges politisches Krisenmanagement geht, bedarf es weitergehender soziologischer Reflektion. Globalisierung und die neue transnationale soziale Frage Drei Hauptgedanken ziehen sich durch dieses Buch. Erstens bildet die Dynamik der Flüchtlingsereignisse des Jahres 2015 den erreichten Grad der Globalisierung und der Transnationalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ab. Noch immer sehen die meisten Menschen ihr Leben im Rahmen nationalstaatlicher Container-Gesellschaften. Sie nehmen sich selbst und die Probleme der Welt wie die konzentrisch angeordneten Schalen einer Zwiebel oder wie die ineinandersteckenden Figuren einer Matrjoschka in abnehmender Wichtigkeit als zunächst lokal, dann national und erst danach global eingebettet wahr. Nach diesem Konzept von National-Containern als wichtigsten gesellschaftlichen Bezugsräumen gibt es jenseits dessen zwar noch einige supranationale Verbünde wie die Europäische Union und globale Einrichtungen wie die Vereinten Nationen. Als wichtigster Bezugspunkt der eigenen Verortung und Interessenformulierung wird jedoch die staatlich befriedete Nationalgesellschaft angesehen. Diese liefert den Rahmen für kollektive Identitäten und für die wahrgenommene Ausdifferenzierung von Lebenslagen und Chancen. Die vorherrschend nationalgesellschaftliche Einrahmung des Lebens spiegelt sich auch...