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Rechtfertigung und Entlastung

Albert Speer in der Bundesrepublik, Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 27

Erschienen am 15.06.2016, 1. Auflage 2016
39,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593505299
Sprache: Deutsch
Umfang: 367 S.
Format (T/L/B): 2.7 x 21.9 x 14.9 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts Mit der Entlassung Albert Speers aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis am 1. Oktober 1966 beginnt eine der erstaunlichsten Geschichten der Nachkriegszeit: Bis zu seinem Tod am 1. September 1981 war der einstige Architekt und Rüstungsminister Hitlers ein Entlastungszeuge in der Bundesrepublik Deutschland und ein Zeitzeuge in der Welt. Seine »Erinnerungen« (1969) und seine »Spandauer Tagebücher « (1975) waren in den Medien und Buchhandlungen überragende Erfolge. In ihrer Studie untersucht Isabell Trommer die Wahrnehmung Speers in der deutschen Öffentlichkeit von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen dabei Rechtfertigungsdiskurse, die nicht nur den Umgang mit Speer selbst geprägt haben, sondern auch viel über das Verhältnis der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus und die Grundzüge ihrer politischen Kultur verraten.

Autorenportrait

Isabell Trommer, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitet als Lektorin.

Leseprobe

I. Einleitung Der 1. Oktober 1966 bricht an: Die Tore des Spandauer Gefängnisses öffnen sich, Albert Speer und Baldur von Schirach, der einstige Reichsjugendführer der NSDAP und Gauleiter von Wien, werden aus dem Kriegsverbrechergefängnis der Alliierten entlassen. Zurück bleibt nur Rudolf Heß, der seine lebenslange Haftstrafe noch bis zu seinem Selbstmord 1987 verbüßen wird. Sie alle waren im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vom Internationalen Militärgerichtshof verurteilt worden. Albert Speer, Hitlers Architekt und Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, ab 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition, war über 20 Jahre inhaftiert. Nun erwarten ihn seine Frau Margarete Speer und sein Anwalt Hans Flächsner. Gemeinsam fahren sie durch das Tor und lassen einen Ort hinter sich, an dem die Zeit gewissermaßen stehengeblieben war. Dann werden sie von der versammelten Presse und anderen Interessierten vor dem Gefängnis empfangen: "Mit einem Schlag waren wir in blendende Helle getaucht." Schirach und Speer treten hinaus in eine ihnen unbekannte politische Ordnung, in die Bundesrepublik Deutschland. Ihre Bürger sollen sie werden. Hier beginnt eine der erstaunlichsten Geschichten der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, die eine lange Vorgeschichte hat. Bis zu seinem Tod am 1. September 1981 in London war Albert Speer ein Entlastungszeuge in Deutschland und ein Zeitzeuge in der Welt; für manche war er eine rätselhafte Figur, für andere eine "nationale Exkulpation" oder schlicht der "gute Nazi". Er wusste Einzelheiten und Persönliches über Adolf Hitler und den Kreis um ihn zu berichten, stillte Neugierde und war zugleich das Alibi einer ganzen Nation. Imre Kertész notierte 1974 in seinem Tagebuch: "Ein Paradefall deutscher Schizophrenie." Nicht nur vor den Gefängnistoren wurde Speer große Aufmerksamkeit zuteil, nach seiner Haftentlassung veröffentlichte er drei Bücher: 1969 erschienen die Erinnerungen, 1975 die Spandauer Tagebücher und 1981 Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzungen mit der SS. Insbesondere Speers Erinnerungen und seine Tagebücher waren in den Medien und in den Buchhandlungen große Erfolge, zu denen das Engagement seines Verlegers Wolf Jobst Siedler und seines Lektors Joachim Fest beigetragen hat. Über Speer wurde nicht nur viel gesprochen und geschrieben, er kam auch zu einigem Ansehen. Seine Bücher verkauften sich mehrere hunderttausend Male. Der Spiegel, der NDR, die BBC und der Playboy interviewten ihn. Die Welt bezahlte 600.000 Mark für einen seriellen Vorabdruck der Tagebücher, und in Amerika wurden seine Erinnerungen unter dem Titel Inside the Third Reich verfilmt. Prominente Publizisten und Schriftsteller rezensierten seine Bücher, aus aller Welt reisten Historiker, Journalisten, Interessierte und Filmemacher an, um Speer in Heidelberg zu treffen. Kein anderer einst führender NS-Politiker kam so gut durch die Nachkriegszeit wie er. Das ist sie, die viel beschworene "zweite Karriere" des Albert Speer. Der Umgang der deutschen Öffentlichkeit mit Speer verrät nicht nur viel über das Verhältnis der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus, sondern auch über die Grundzüge ihrer politischen Kultur. Wie kein anderer nationalsozialistischer Politiker hat Speer die Wahrnehmung und Deutung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland geprägt und geleitet. Zuallererst war es Speers Verhältnis zu Hitler - die Nähe und all die vermeintlichen oder tatsächlichen Ambivalenzen -, das im Mittelpunkt des Interesses stand: Einerseits gab es in der Nachkriegszeit kaum einen anderen "Zeugen", der Hitler so nah gewesen war. Diese enge Bindung, von Speer immer wieder als Verführung beschrieben, faszinierte, schien sie doch repräsentativ dafür zu sein, wie es den Deutschen mit Hitler ergangen war. Andererseits zeichnete Speer sich dadurch aus, dass er sich angeblich vom NS-Regime distanziert hatte: In der Schlussphase des Krieges wollte er gegen Hitlers Politik der "verbrannten Erde" aufbegehrt und so die materiellen Grundlagen des deutschen Volkes vor der Zerstörungswut des Diktators bewahrt haben. Ohne Speers Eingreifen, so glaubten viele, wären die wirtschaftlichen Erfolge der jungen Bundesrepublik undenkbar gewesen. Unter anderem deshalb galt Albert Speer häufig als ein Sonderling innerhalb der nationalsozialistischen Führungsriege. Er stand für eine ungewöhnliche Aufstiegsgeschichte, wurde als bürgerlich, höflich und zivilisiert wahrgenommen, als Künstler, Techniker und Manager, als ein Fachmann, den die NS-Ideologie nicht gänzlich zu korrumpieren vermochte. Dem, was man sich gemeinhin unter einem "Nazi" vorstellte, schien er in vielerlei Hinsicht nicht zu entsprechen. Speer selbst hatte sich in den Befragungen durch die Alliierten unmittelbar nach Kriegsende und zumal im Verlauf des Nürnberger Prozesses auf die Behauptung gestützt, er habe sich während des Nationalsozialismus nur auf seine "fachliche Arbeit" konzentriert. In seiner Nürnberger Schlusserklärung 1946 warnte er dann vor den Gefahren einer Herrschaft der Technik, wie sie seiner Ansicht nach unter Hitler schon nahezu verwirklicht gewesen sei. Die apologetische Formel vom unpolitischen Technokraten gestattete es Speer, in einem begrenzten Rahmen Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, erlaubte es ihm aber auch, sich als Opfer seiner im Grunde unpolitischen Haltung gegenüber dem NS-Regime zu stilisieren: In Verkennung der totalitären Natur des Regimes war der ambitionierte Künstler einen Pakt mit Hitler eingegangen, der ihn in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickte. Überhaupt hatte Speer im Nürnberger Prozess eine vergleichsweise ungewöhnliche Rolle übernommen. Er sprach nicht von Schuld, bekannte sich aber als einziger der Angeklagten zu einer "Gesamtverantwortung". Nach seiner Freilassung zeigte er Einsicht und Reue, blieb in seinen Stellungnahmen jedoch unkonkret, verschwieg Kenntnisse, die er besaß, und log mit strategischem Kalkül, was seine Beteiligung an den Verbrechen des Regimes betraf. Bis zuletzt bestritt Speer, von der Vernichtung der europäischen Juden gewusst zu haben. Auch "den Namen Auschwitz" wollte er in dieser Zeit "nicht direkt gehört" haben, obwohl er, dieses Zugeständnis rang er sich eines Tages ab, geahnt haben wollte, "daß etwas Schreckliches mit den Juden geschah". Mit seiner Rhetorik bot er der bundesrepublikanischen Bevölkerung ein Rollenmodell an, dessen sie sich gerne bediente: Speer verurteilte den Nationalsozialismus als verbrecherisch, doch von den Einzelheiten habe er nichts gewusst. Und wenn er als Minister davon keine Kenntnis hatte, konnten sich auch viele andere darauf berufen. Wie sich im Lauf der Arbeit zeigen wird, trug die Tatsache, dass seinen Selbstauskünften weitestgehend Glauben geschenkt wurde, erheblich zu Speers "zweiter Karriere" bei. Seine Apologien prägten oder unterstützten die Meinung und das Verhalten vieler in der Bundesrepublik. Zugleich speisten sich seine Rechtfertigungen aus gesellschaftlich etablierten Entlastungsmustern. Die frühen Arbeiten über Speer dokumentieren, dass er als bedeutende und einflussreiche Führungsfigur wahrgenommen wurde, außerdem formulieren sie Typisierungen, entschiedene Interpretationen seiner Rolle im Nationalsozialismus oder psychologisierende Deutungen. So hatte Sebastian Haffner schon 1944 im britischen Exil über den "nationalsozialistischen Machttechniker" geschrieben, er sei in "gewisser Hinsicht [] für Deutschland heute wichtiger als Hitler", schließlich gehöre er zu einer Spezies, die mit ihren administrativen Fähigkeiten die entsetzliche technische und organisatorische Maschinerie des Regimes am Laufen hielt. Einen ähnlichen Gedanken verfolgte der britische Historiker Hugh Trevor-Roper, der Speer 1947 als "wahren Verbrecher Nazideutschlands" bezeichnete. Stärker geprägt hat die öffentliche Physiognomie Speers ein Aufsatz von Joachim Fest aus dem Jahr 1963. Sein Porträt "Albert Speer und die technizistische Unmoral" ist ein...

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