Beschreibung
Der Reader versammelt programmatische Ansätze der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Problem der Evidenz aus dem Blickpunkt der Sprach-, Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaft, Medientheorie, Anthropologie und Soziologie. Mit Beiträgen u.a. von Rüdiger Campe, Iris Daermann, Egon Flaig, Peter Geimer, Vinzenz Hediger, Caspar Hirschi, Ludwig Jäger, Albrecht Koschorke, Helmut Lethen, Jakob Moser, Inka Mülder-Bach, Jan-Dirk Müller, Karl Schlögel, Florian Sprenger, Jakob Tanner, Marcus Twellmann, Juliane Vogel und Claus Zittel.
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Autorenportrait
Helmut Lethen ist Direktor des IFK Wien und hat dort 2007 den Schwerpunkt 'Kulturen der Evidenz' ins Leben gerufen. Seine Gebiete sind Historische Avantgarden, philosophische Anthropologie und Mediengeschichte.
Leseprobe
Vorwort Helmut Lethen "Die Geschichte hat um den modernen westlichen Menschen, der so reich ist, zahllose Filter, Städte, Werbeflächen, medizinische Versorgungssysteme, Techniken, Versicherungen, ein ganzes Netz aus Stützgerüsten und Gewohnheiten errichtet, das Harte hat Seltenheitswert bekommen für ihn und um ihn herum; das Logische füllt die Bildschirme und Leinwände, bedeckt die Wände und durchzieht seine Arbeit, es hat ihn bei lebendigem Leib verschlungen, er ist rundum eingetaucht in die Welt der kleinen Energien. Um uns aus diesem Schlaf zu reißen, reicht der Empirismus nicht mehr aus []" (Michel Serres, Die fünf Sinne) Vage Begriffe können große Unruhe im Feld der Wissenschaften stiften. Als das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) sich vor acht Jahren zum Schwerpunkt "Kulturen der Evidenz" entschied, war damit die Erwartung verbunden, "ontologische Unruhe" in kulturwissenschaftliche Forschungen zu bringen, in denen im Zeichen des linguistic turn und des Radikalen Konstruktivismus von Wirklichkeit nicht mehr die Rede war. Allerdings stammte die Wendung "Kulturen der Evidenz" aus Schriften des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. In diesem Kontext bezeichnete sie keineswegs eine Neigung zur Ontologie, sondern Wissenspraktiken des 19. Jahrhunderts, in denen die Herstellung von Evidenz technischen Geräten wie dem Fotoapparat anvertraut worden war. An den in diesem Reader versammelten Beiträgen lässt sich das Abenteuer des Nachdenkens über Evidenz in den letzten zwei Jahrzehnten nachzeichnen. Dieses Nachdenken verfolgt einen mit großer ontologischer wie epistemologischer Fallhöhe verbundenen, insofern wahrhaft schwindelerregenden Parcours; es schwankt zwischen flüchtiger Gewissheit und anhaltender Skepsis. Das Schwindelgefühl hat auch einen, wenn man so will, physiologischen Grund: Es rührt aus den Überforderungen des Sehsinns, im Zeichen der Evidenz seine Vorherrschaft auch auf Gebieten der "unsichtbaren Weite des Seins" aufrechtzuerhalten. Schon 1980 hatte Michel de Certeau festgestellt, dass die Gesellschaft einer "Wucherung des Sehens" unterliege. Sie bewerte "jede Realität nach ihrem Vermögen, sich zur Schau zu stellen". Der sozio-kulturelle "Schauplatz" der Gegenwart lasse das alte Postulat von der Unsichtbarkeit des Realen nicht zu. Eine der großen Leistungen der Kulturwissenschaften hat darin bestanden und besteht immer noch darin, zu untersuchen, welche sprachlichen und visuellen Konstruktionselemente die "Effekte des Realen" erzeugen, wie Wirklichkeiten durch routinierte oder unerwartete Techniken einer - sei es aus sich heraus leuchtenden (evidentia), sei es als bloß scheinhaft eingestuften - Offenkundigkeit produziert werden. Darüber gerieten das "große Schweigen der Dinge", ihr Eigensinn und ihre Widerständigkeit in Vergessenheit. Einige Beiträge dieses Bandes zeigen, wie schwierig es ist, das Augenmerk auf die Unverfügbarkeit der Dinge zu lenken. Andere sprechen von der "Mystik", in der wir Dinge, die durch kein Medium geprägt scheinen, erfahren; für Dritte wiederum ist jede Wahrnehmung durch das Vermögen der Sprache gezeichnet, den "Sinn" der Dinge zu generieren. So leuchtet unser Band das Spannungsfeld aus, in dem auch künftige Diskussionen sich werden positionieren müssen. Das Buch wird von uns als "Reader" bezeichnet, weil auch einige bereits andernorts publizierte Beiträge in leicht aktualisierter Form wieder abgedruckt wurden. Eine Begrenzung unseres Unternehmens liegt darin, dass nur deutschsprachige Abhandlungen aufgenommen wurden und dass das Problem der Evidenz in Naturwissenschaften und Rechtspraxis ausgespart bleibt. Einen nach wie vor nützlichen Überblick über die Diskussion des Evidenz-Problems in angelsächsischen Wissenschaften bietet der Band Questions of Evidence, der 1994 in Chicago herauskam. Die ausführliche Bibliografie am Ende dieses Bandes wird allen Lesern, die das Problem der Evidenz in größerem Rahmen verfolgen wollen, nützlich sein. Situation der Theorie Das Mysterium des Realen in der Moderne Albrecht Koschorke Anlässe zur Nachjustierung des Wirklichkeitssinnes Der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 löste - neben anderen, weit gravierenderen Folgen - in Kreisen westlicher Intellektuellen eine bestürzte Nachdenklichkeit darüber aus, ob man mit der postmodernen Rede, die Realität habe sich in massenmedialer Simulation aufgelöst, nicht zu weit gegangen sei. Der Schock von 9/11 ließ "die konstruktivistischen Medientheorien" im Rückblick als "fahrlässiges Manöver" einer Spaßgesellschaft erscheinen, und unter Sozialwissenschaftlern kam es zu einem "reawakening to the recalcitrance of facts". Nun hätte man sich nicht erst durch die Zerstörung der New Yorker Bürotürme daran erinnern lassen müssen, dass es reale Gewalt in der Welt gibt. Dessen ungeachtet bewirkte die Terrorattacke so etwas wie eine spontane Massenkonversion im Feld der Theorie, wobei den avancierten Theorierichtungen der Postmoderne, Konstruktivismus und Dekonstruktion, unterstellt wurde, sich als Handreichungen zum Wirklichkeitsverlust angeboten zu haben. Eine ähnliche Reaktion, wenngleich unter veränderten Vorzeichen, stellte sich nach dem Bankencrash des Jahres 2008 ein. Hier waren es allerdings nicht die Vordenker der Postmoderne, die angeblich der Wirklichkeit den Boden unter den Füßen wegspekuliert hatten, sondern eine Gruppe von global vernetzten Algorithmikern und Finanzspezialisten. Zu den bitteren ökonomischen Konsequenzen, die sich aus dem nur um Haaresbreite vermiedenen Totalzusammenbruch der Finanzmärkte gerade für die schwächeren Staaten und Bevölkerungsgruppen ergaben, gesellte sich ein Derealisierungsschock eigener Art. Als ob man es nicht auch schon zuvor hätte wissen können, schien erstmalig ins öffentliche Bewusstsein zu treten, aus welchen rein virtuellen, in Art und Umfang schwindelerregenden Transaktionen das Weltfinanzsystem besteht - mit dem ironischen Effekt, dass die zuvor oft geschmähte kapitalistische Warenökonomie nun als "Realwirtschaft" zum schützenswerten Gut und nostalgischen Maß aller Dinge verklärt wurde. Beiden Krisenmomenten folgte trotz aller Unterschiede dasselbe kulturelle Reaktionsmuster: der Appell zu einem erneuerten Realismus, zu einer Rückbesinnung auf das unbezweifelbar Wirkliche und dessen angemessene Manifestation, sowohl im kognitiven als auch im normativ-moralischen Sinn. In einer nochmals ganz anderen Weise wurde auch dem Terroranschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo umgehend eine ontologische Dimension zugesprochen. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp sah sich durch dieses Ereignis dazu veranlasst, an die Gebildeten unter den Europäer zu appellieren, sich zu einem bildkulturellen clash of civilizations zu rüsten. Durch den Mord an Zeichnern, die Karikaturen des Propheten veröffentlichten, so äußerte sich Bredekamp in einem SZ-Interview, sei "Europa im Kern seines Selbstverständnisses getroffen". Eine neue Zeit des Wagemuts und des Opfergeistes sei angebrochen, um "die große, in langen Kämpfen erstrittene Errungenschaft der abendländischen Kultur" zu verteidigen: die Unterscheidung "zwischen Bild und Gott, Bild und Körper". Wer Bilder als Gotteslästerungen ansehe und deshalb ihre Urheber ermorde, greife nicht nur die Meinungs- und Religionsfreiheit an, sondern weigere sich, die für die westliche Bildkultur grundlegende Ablösung des Wesens von seinem Abbild, anders formuliert: den Hiatus zwischen Bild und Präsenz, mitzuvollziehen. - Hier ist es also nicht der Mangel, sondern ein Zuviel des Realen, das in Alarmbereitschaft versetzt. Aus diesen Beispielen, denen unzählige andere hinzugefügt werden könnten, geht zweierlei hervor. Erstens erweist sich die Frage, wie Zeichen und Bezeichnetes im gesellschaftlichen Symbolraum zusammenhängen, ob und wann sie eine enge Verbindung eingehen - mithin die Frage der Evidenz -, als ein in akuter Weise kulturell um...