Beschreibung
Marx' Ökologie dieser Ausdruck klingt wie ein Oxymoron. Hat Marx nicht die absolute menschliche Herrschaft über die Natur propagiert? Angesichts der heutigen globalen ökologischen Krise ist es unumstritten, diese im engen Zusammenhang mit dem kapitalistischen System zu analysieren. Für die Gestaltung einer breiten »roten« und »grünen« Bewegung im 21. Jahrhundert ist deshalb eine Aktualisierung der Marx'schen Theorie unerlässlich. Kohei Saito rekonstruiert systematisch die unvollendete Marx'sche ökologische Kritik des Kapitalismus anhand der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe. Diese gibt unbekannte naturwissenschaftliche Exzerpte von Marx preis sowie seinen Versuch, den Widerspruch des Kapitalismus als ökologische Krise zu thematisieren.
Autorenportrait
Kohei Saito ist Gastforscher in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in der Abteilung Marx-Engels-Gesamtausgabe(MEGA).
Leseprobe
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2014 als Dissertation demInstitut für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin vorgelegt.Vor allem möchte ich mich bei Andreas Arndt herzlich bedanken,der seit dem Anfang meines Aufenthalts in Deutschland mein Projekt invielerlei Hinsicht rückhaltlos unterstützt und mich stets motiviert hat. Ohne seine Betreuung wäre mir der erfolgreiche Promotionsabschlussim Ausland nicht möglich gewesen. Frieder Otto Wolf und HaraldBluhm bin ich auch sehr dankbar für ihre Bereitschaft,als Gutachter amDissertationsverfahren mitzuwirken.
Der Beitrag wurde von zahlreichen intensiven Diskussionen und Gesprächen mit Tomonaga Tairako, Ryuji Sasaki, Hideto Akashi undSoichiro Sumida in Seminaren an der Hitotsubashi Universität in Tokyound in privaten Lesekreisen inspiriert, die seit mehr als zehn Jahren andauern.Sie haben auch die früheren Versionen meiner Arbeit gründlichgelesen und sie mit ihren kritischen Kommentaren wesentlich verbessert.Die ursprüngliche Inspiration für diese Arbeit stammt aus meinerErfahrung bei der Editionsarbeit des Bandes IV/18 in der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Teinosuke Otani hat mich im September 2012 nachunserem Forschungsaufenthalt im Internationalen Institut für Sozialgeschichte(IISG) in Amsterdam zur Teilnahme an der japanischenMEGA-Editionsgruppe eingeladen und mir seitdem durch seine sorgfältigeMarx-Lektüre die Bedeutung der Notizen und Exzerpte für dieMarx-Forschung vor Augen geführt. Ihm gilt mein bester Dank.Interessante und spannende Diskussionen mit Kevin Anderson, MichaelHeinrich, Michael Perelman, Kolja Lindner, Ingo Stützle und ElenaLouisa Lange auf verschiedenen Konferenzen und Veranstaltungenin Berlin, London, New York, Beijing, Tokyo und Zürich haben mirwährend der Vorbereitung des Manuskripts wichtige Impulse gegeben.Besonders möchte ich bei dieser Gelegenheit betonen, dass ohne JohnBellamy Fosters anregende Kommentare das Projekt sicherlich wenigerfruchtbar und aktuell ausgefallen wäre.
Die MEGA-Editoren in der Berlin-Brandenburgischen Akademieder Wissenschaften (BBAW), vor allem Gerald Hubmann, haben michbei der oft schwierigen Auseinandersetzung mit Marx' Exzerpten ermutigt.Mein Dank gilt ebenso Claudia Reichel, die freundlicherweiseoft Fotokopien der aufbewahrten Marginalien und Briefe von Marx undEngels zur Verfügung stellte. Ohne Timm Graßmanns Hilfe beim Korrekturlesenwäre mein Text kaum lesbar. Mit seinem freundlichen Charakterwar er sicherlich mein wichtigster Gesprächspartner in Berlin.Martin Regenbrecht danke ich für seine sorgsame Lektoratsarbeitbei der Vorbereitung der Druckvorlage. Martin Kölbel hat freundlicherweisein letzter Minute den Satz des Buches übernommen. Ich bedanke mich schließlich für das DAAD-Stipendium und das Elsa-Neumann-Stipendium, das meinen Aufenthalt in Berlin finanziell ermöglicht hat.
Kohei Saito
Berlin, im Oktober 2015
Einleitung: Marx' Ökologie heute?
Der Ausdruck "Marx' Ökologie" klang jahrzehntelang wie ein Oxymoron.Sowohl Marx' Annahme des unbegrenzten wirtschaftlichen undtechnologischen Wachstums als auch sein Propagieren der absolutenNaturbeherrschung schienen in striktem Gegensatz zu jeglicher ernsthaftenDiskussion über die Naturressourcenknappheit und die Überbelastungder Ökosphäre zu stehen. In den 1970er Jahren, als in denwestlichen Gesellschaften verschiedene ökologische Probleme als ernsthafteBedrohung der menschlichen Zivilisation sicher fühlbar gewordenwaren, tadelte Horst Kurnitzky, dass Marx "den destruktiven Charakter,der in Naturwissenschaft und Industrie von Anbeginn angelegtist, übersieht", da der Begründer des Sozialismus sich immer noch "imKontinuum des bürgerlichen Versuchs vollkommener Naturbeherrschung" bewege (Kurnitzky 1970: 61). John Passmore pflichtete KurnitzkysKritik bei und behauptete in Man's Responsibility for Naturesogar: "Nichts könnte ökologisch schädlicher sein als die hegelianischmarxistischeDoktrin" (Passmore 1974: 185).
Der gegen Marx erhobene Vorwurf des "Prometheanismus" (Giddens1981: 60) - ein unerschütterlicher Fortschrittsglaube, wonachder Mensch mithilfe technologischer Entwicklungen die Welt immereffektiver und freier zu manipulieren vermag - ist folglich zu einempopulären Stereotyp geworden. Noch heute ist nicht selten die Kritikselbst unter angeblichen Marxisten zu vernehmen, dass Marx' Theorieleider aus heutiger Perspektive fatal verfehlt sei: Sein historischer Materialismuslobe die Entwicklung der Technologie und Produktivkraftim Kapitalismus unkritisch und habe zugleich fälschlicherweise prognostiziert,dass der Sozialismus alle negativen Aspekte der modernenIndustrie einfach durch eine radikale Umwälzung der kapitalistischenProduktionsweise und durch die gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittelumgehen könne. Diesen sogenannten "Produktivkraft
Fetisch" bei Marx haben jüngst Thomas Petersenund Malte Faberwieder bekräftigt. Sie behaupten, Marx sei "zu optimistisch in seinerAnnahme, dass jeder Produktionsprozess so betrieben werden könne,ohne dass Umweltschadstoffe anfallen. [] Dieser Fortschrittsoptimismusist wohl eine Folge seiner großen Bewunderung für die kapitalistischeBourgeoisie, die schon das Manifest der Kommunistischen Parteidokumentiert" (Petersen/Faber 2014: 139).
Auch Rolf P. Sieferle lehnt jede Möglichkeit einer Marx'schenÖkologie ab, da dieser irrtümlich und naiv geglaubt habe, dass mithilfeseiner geschichtlichen Auffassung des Kapitalismus die "Grenzendes Wachstums von Naturfaktoren abgekoppelt" würden (Sieferle2011: 215). Indem er jenem modernistischen Zeitgeist des Fortschrittsoptimismusund der Idee der Naturbeherrschung unkritischaufsitze, verfalle Marx' prometheisches Modell hoffnungslos in einenAnthropozentrismus. Hans Immler, der mit seinem wichtigen BuchNatur in der ökonomischen Theorie als einer der ersten Wissenschaftlerder politischen Ökologie gilt, kritisiert Marx ebenfalls. Immlerzufolge sei der unökologische Standpunkt von Marx darin begründet,dass seine Werttheorie wegen seiner Verabsolutierung menschlicherArbeit die Natur als wertunproduktiv behandele: Marx' Kritiksei "mit ihrer einseitigen Konzentration auf Wert und Wertanalyseund mit ihrer prinzipiellen Vernachlässigung der physisch-naturalenSphäre (Gebrauchswert, Natur, Sinnlichkeit) sprachlos und analyseunfähiggeblieben [] gegenüber jenen Entwicklungen in der Gesellschaftspraxis,von denen einerseits die elementaren Bedrohungendes Lebens und andererseits, etwa als ökologische Politik, aber auchentscheidende Impulse zur Veränderung der gesellschaftlich-ökonomischenRealität ausgehen" (Immler 2011 [1984]: 36). Immler undSieferle sind sich dabei mit anderen Marx-Kritikern einig, dass dergroße Denker des 19. Jahrhunderts als törichter Fürsprecher unendlichentechnologischen und wirtschaftlichen Wachstums einen im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptablen unökologischen Standpunkteinnehme. "Vergiss also Marx", so das provozierende Resümee Immlers(2011: 12).
Doch man kann heute Immlers Vorschlag nicht so einfach befolgen.Denn gegen Ende des letzten Jahrhunderts erschienen in Nordamerikazwei wichtige Bücher zum Thema Marx und Ökologie: Paul BurkettsMarx and Nature (1999) und John Bellamy Fosters Marx's Ecology 11(2000).Darin zeigen sie einen neuen Weg zur Befreiung des Marxismusvon der Prometheanismus-Etikettierung auf, indem sie ausführlichbisher unbemerkte oder unterschätzte Aspekte von Marx' Auseinandersetzungenmit der Ökologie aufdecken. Burkett behauptet sogar, dassgerade Marx' Kritik des Kapitalismus und seine Vision des Sozialismusfür jede Reflexion über die gegenwärtige globale Öko-Krise "am hilfreichsten" sein könne (Burkett 2005: 34).
Burketts Aussage erwies sich nicht als übertrieben. Wie Foster selbstkürzlich anmerkte, ist die diskursive Konstellation um Marx' Ökologiein den letzten fünfzehn Jahren eine ganz andere geworden, seit eine Reihevon Publikationen über den "ökologischen Bruch (metabolic rift)"erschienen ist (Foster 2009: 161 ff.; Foster u. a. 2011).In der Tat gewanndieser Begriff des "ökologischen Bruchs", der ursprünglich von Marx'Kapital inspiriert ist, über einen kleinen Kreis von Öko-Marxisten hinausin der linken ökologischen Bewegung starken Einfluss. So beziehtsich etwa Naomi Kleins einflussreiche Kritik der kapitalistischen Umweltzerstörungin ihrer neuen Schrift This Changes Everything (2014:177) zustimmend auf Fosters Werk und dessen Theorie des "ökologischenBruchs", obwohl sie selbst keine Marxistin ist. Es ist bezüglichder Lage der "Marx'schen Ökologie" keine Übertreibung, dass einemarxistische Kritik des Kapitalismus als Problematisierung des ökologischenBruchs sowohl auf theoretischem als auch auf praktischemNiveau positiv anerkannt ist. Der gegen Marx erhobene Vorwurf desunökologischen Prometheanismus schien beseitigt zu sein. Burkett und Foster arbeiten eng zusammen, haben aber unterschiedliche Forschungsfelder:
Burkett konzentriert sich auf Marx' politische Ökonomie, währendFoster sich eher mit Marx' Analyse der Natur und Ökologie beschäftigt. Burkettsökonomische Marx-Lektüre zeigt sich in vielerlei Hinsicht kompatibel mit der Kapital-Interpretation dieser Studie und dient hier als eine der wichtigsten Quellen der Inspiration. Foster (2014: 56) schreibt in seinem neuen Vorwort zur zweiten Auflage von BurkettsMarx and Nature: "A decade and a half ago the contribution of Marx andMarxism to the understanding of ecology was seen in almost entirely negative terms,even by many self-styled ecosocialists. Today Marx's understanding of the ecologicalproblem is being studied in universities worldwide and is inspiring ecologicalactions around the globe". Allerdings ging die Rezeption des ökologischen Marxismus in Deutschland relativlangsam vonstatten (Wolf 2000: 139). Als nennenswerte Ausnahme könnte IringFetscher (1981; 1985) gelten, obwohl seine Skizzierung des "grünen Marx" sehrknapp geblieben ist. Wichtige öko-marxistische Ansätze von Elmar Altvater (1992)12 Doch gerade wegen der Erweiterung des "klassischen" marxistischenAnsatzes durch Foster und Burkett gibt es wiederum Vorbehaltegegen Marx von Seiten der sogenannten "first-stage ecosocialists", dienur eine begrenzte Gültigkeit der Marx'schen Theorie anerkennen wollen(Foster 2014: 57 f.). Sie behaupten nach wie vor, dass Marx' Ökologienur ein partielles und marginales Thema in seiner politischen Ökonomiesei, dessen Bedeutung nicht überschätzt werden solle (Kovel 2002;Engel-Di Mauro 2014: 136-142). Marx sei kein allwissender Prophetgewesen und habe heutige ökologische Probleme wie den dramatischenKlimawandel infolge der massiven Verwendung fossiler Energie nichtadäquat voraussehen können (Tanuro 2013: 138 f.). Der heutige Zustandsei so weit von dem entfernt, was Marx sich überhaupt vorstellen konnte,dass dessen Theorie zu einer systematischen Erörterung der aktuellenUmweltthematik ungeeignet sei. Zudem kritisiert Jason W. Moore,dass Fosters Kritik der kapitalistischen Umweltzerstörung ohne Marx'Werttheorie den dynamischen geschichtlichen Prozess der Transformationdes gesamten Ökosystems - Moore nennt es "oikeios" - im Kapitalismusnicht erfassen könne, sondern bloß eine "statische und unhistorischeTheorie der Naturgrenzen" darstelle (Moore 2015: 80), so dass siezwangsläufig nur "apokalyptische" Implikationen haben könne (Moore2014: 13). Die Kritiker monieren, dass "Marx' Ökologie" in eine Sackgasseführen müsse, weil sie letztendlich nur auf die banale Tatsachehinweisen könne, dass Kapitalismus schlecht für die Umwelt sei.Um diese zählebigen Gegenreaktion auf "Marx' Ökologie" nochmalszu widerlegen und um sie aus ihrer vermeintlichen theoretischenSackgassezu retten, zielt der vorliegende Beitrag auf eine systematischere undvollständigere Rekonstruktion der Marx'schen ökologischen Kritik desKapitalismus. Wenn Burkett und Foster schon sehr mühsam diverseTextstellen von Marx berücksichtigten, um dessen ökologische Perspektivedarzustellen, so entstand daraus an manchen Stellen der (falsche)Eindruck, dass Marx diese Thematik nicht systematisch, sondern nursporadisch behandelte. Auf der einen Seite ist es daher nötig, Marx'und Helmut Brentel (1989a) setzten sich nicht direkt mit Marx' Texten auseinanderund liegen daher außerhalb des Gegenstandsbereichs der vorliegenden Studie. Brentelist im Übrigen der Auffassung, dass bei Marx "ein systematischer Theorieteilzum Verhältnis (der Reproduktion bzw. der Zerstörung) der allgemeinen materiellenProduktionsbedingungen und einer (ökologisch) krisenhaften Kapitalreproduktion[] nicht [vorliegt]" (Brentel 1992: 234). Ökologie systematisch in klarer Kontinuität zu seiner politischen Ökonomiezu entfalten (Teil I). Auf der anderen Seite beschäftigt sich dievorliegende Studie mit Marx' Ökologie vollständiger als die früherenForschungen, indem sie seine naturwissenschaftlichen Exzerpte, diezum ersten Mal in der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe veröffentlichtwerden, untersucht, um die Entstehung seiner ökologischen Theorieso genau und lebhaft wie möglich nachzuvollziehen (Teil II). Eswird aufgezeigt, wie ernsthaft und mühsam Marx sich mit dem reichenForschungsfeld der verschiedenen ökologischen Theorien des 19. Jahrhundertsauseinandersetzte und sie in seine Analyse integrierte, ohnein naiven Fortschrittsoptimismus und Produktivkraft-Fetischismus zuverfallen. Der Schlüsselbegriff ist hier der "Stoffwechsel", der den Wegzu einer systematischen Lektüre der Marx'schen Ökologie eröffnet.4Die Bedeutung der "systematischen" Lektüre wird deutlicher, wennman kurz eine typische Leseart von jenen früheren Öko-Sozialisten betrachtet.Dem in der Forschungsgeschichte häufig wiederholten Jammervon Marxisten entsprechend, wonach es heute bestenfalls möglich sei,das Marx'sche Werk als "Zitatensteinbruch" zu nutzen und womöglicheinige nützliche Ideen für gegenwärtige theoretische Auseinandersetzungaufzugreifen, behauptet Hubert Laitko: "Dieses Vorgehen ermangeltjedoch der Systematik und Stringenz, auf theoretisches Arbeitenkann es vielleicht anregend wirken, aber auch nicht mehr" (Laitko 2006:65). Marx ist selbstverständlich kein "Prophet" gewesen, weshalb jederVersuch, die heutige ökologische Perspektive unmittelbar im Textvollkommen zu identifizieren, vermessen wäre. Diese triviale Tatsacherechtfertigt aber keineswegs Laitkos Deutung. Denn falls Marx' Kapitaltatsächlich zu nichts weiter als zum Zitatensteinbruch brauchbar seinsollte, ließe sich fragen, warum Marx in Bezug auf die Thematik derÖkologie heute überhaupt noch gelesen werden sollte. Viele Öko-Sozialistenkönnen trotz ihres Hinweises auf "das marxistische Erbe" als"wertvolles Werkzeug" keinen positiven Grund für die heutige Beschäftigungmit Marx finden und kommen letztendlich zu dem Schluss, dassdessen Lehre ein Hindernis für ein grünes Projekt im 21. Jahrhundert4 Zwar verwendeten Marx und andere wichtige Zeitgenossen den Terminus "Ökologie" nicht, obwohl Ernst Haeckel ihn schon 1866 in Generelle Morphologie derOrganismen im heute üblichen Sinne definierte als "gesammte Wissenschaft von denBeziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiterenSinne alle Existenz-Bedingungen rechnen können" (Haeckel 1866: Bd. 2, 286). sei. So fordert Alain Lipietz exemplarisch: "Die allgemeineStruktur,das Skelett des marxistischen Paradigmas, seine Rhetorikdes PrinzipsHoffnung müssen verlassen werden" (Lipietz 1998: 64).5Der vorliegende Beitrag zielt dagegen vor allem auf eine systematischeDarstellung der Marx'schen ökologischen Kritik als unentbehrlichesMoment seines ökonomischen Systems und vertritt die These,dass das wahre Ziel der Marx'schen Kritik der politischen Ökonomienicht richtig begriffen werden kann, wenn man den Aspekt der Ökologievernachlässigt. Es soll mithilfe der Marx'schen Theorie des "Werts"und der "Versachlichung" gezeigt werden, dass Marx die gesamte Naturoder die "stoffliche Welt" als denjenigen Widerstandspunkt gegen dasKapital thematisiert, an dem der Widerspruch der kapitalistischen Produktionsich am deutlichsten manifestiert. So ist diese Arbeit betitelt:" ". Insofern macht Marx' Analyse der Ökologienicht nur einen immanenten Bestandteil in seinem ökonomischen Systemund in seiner Vision des Sozialisus aus, sondern bietet auch einenhilfreichen Ansatzpunkt für die Kritik an der kapitalistischen Zerstörungder globalen Umwelt. Hierin liegt meines Erachtens eine klare Aktualitätder Marx'schen Theorie.Freilich ist auf der einen Seite zuzugeben, dass Marx nicht von Anfangan "ökologisch", sondern eher "prometheisch" war. Erst mit derEntwicklung seiner eigenen politischen Ökonomie begann er ernsthaft,das Problem der Naturzerstörung als Grenze der kapitalistischen Verwertungzu thematisieren, nachdem er sich intensiv mit naturwissenschaftlichenSchriften beschäftigt hatte. Allerdings sind auf der anderenSeite einige wichtige Motive seiner ökologischen Theorie schon in denPariser Heften vorhanden. Wie das 1. Kapitel dieser Arbeit zeigen wird,behandelt Marx schon 1844 die Beziehung zwischen Mensch und Naturals zentrales Thema seiner Entfremdungstheorie. Er findet in derradikalen Auflösung der ursprünglichen Einheit zwischen Mensch undNatur die Entstehung des modernen entfremdeten Lebens und setztdem die emanzipatorische Idee der Wiedervereinigung von Mensch undNatur als "Humanismus = Naturalismus" entgegen.In der Deutschen Ideologie erkannte Marx jedoch das Ungenügeneiner bloßen Entgegensetzung einer philosophischen "Idee" gegen die5 Die Kategorisierung "Öko-Sozialismus" mutet beinahe ironisch an, wenn seineVertreter wie André Gorz (2012 [1994]: vii) den Sozialismus heute für "tot" halten. 15entfremdete Realität. Infolge des anschließenden Abschieds von derFeuerbach'schen Philosophie thematisierte Marx mehr und mehr dieMensch-Natur-Beziehung mithilfe eines physiologischen Begriffs des"Stoffwechsels", und er begann, dessen "Störung" als Widerspruch desKapitalismus zu kritisieren. Der Stoffwechselbegriff bietet somit einenLeitfaden für die gesamte ökologische Untersuchung. Das 2. Kapitelzeigt in einer begriffsgeschichtlichen Analyse, wie Marx' Stoffwechselbegriffin den kaum beachteten Londoner Heften erstmals in Erscheinungtrat und sich in den Grundrissen der Kritik der politischenÖkonomie vertiefte. Anhand des Stoffwechselbegriffs erfasst Marx eineumfassende übergeschichtliche Naturbedingung der menschlichen Produktion,die jedoch im modernen System zusammen mit der Erweiterungder Sphäre der kapitalistischen Produktion und der Steigerungder Produktivkraft radikaler denn je modifiziert wird. Marx untersucht,wie die spezifisch kapitalistische Dynamik der Produktion zugunstender Kapitalakkumulation ein ganz besonderes Verhältnis der Menschenzu ihrer Umwelt konstruiert, und wie sie eine Reihe von Disharmonienund Diskrepanzen in der Natur selbst verursacht. Das Begreifen dieserhistorischen Spezifik des Mensch-Natur-Verhältnisses im Kapitalismusist Marx' historischer Beitrag zum Thema "Ökologie".Um das spezifisch moderne Mensch-Natur-Verhältnis als unökologischeszu begreifen, führt das 3. Kapitel eine systematische Rekonstruktionder Marx'schen Ökologie durch die Erörterung seiner Theorieder Versachlichung im Kapital aus. Dieser Fokus rückt eine inder Marx-Forschung bislang unterschätzte stoffliche Perspektive insZentrum seiner Kritik der politischen Ökonomie. Marx' Kapital stelltbekanntlich rein formelle ökonomische Kategorien des Kapitalismussystematisch dar, und diese "Fetischismus-Kritik" mittels der Analyseder "spezifisch sozialen Formen" ist oft als Kern seiner Kritik der politischenÖkonomie verstanden worden (Brentel 1989: 13; Elbe 2010a:228). Allein, Marx' System darf auf die kategoriale Rekonstruktion derTotalität der kapitalistischen Gesellschaft nicht reduziert werden. Einsolcher Ansatz kann nicht erklären, warum Marx sich so intensiv mitden Naturwissenschaften auseinandergesetzt hat.Die vorliegende Studie grenzt sich somit von der sogenannten "neuenMarx-Lektüre" ab, indem sie behauptet, dass es bei der Marx'schenpraktisch-kritischen materialistischen Methode um die Analyse des Zusammenhangszwischen den ökonomischen Formen und der konkreten16 stofflichen Welt geht, deren Daseinsweise wesentlich durch ökologischeParameter bestimmt wird. Sofern die Zerstörung der Natur unter demKapitalismus nach Marx' Analyse nichts anderes ist als die Manifestationdes Widerspruchs zwischen der kapitalistischen Formbestimmtheitund der Natur, kann seine Kritik des Kapitalismus erst dadurch hinreichendsystematisch erörtert werden, dass die im Kapital behandeltenökonomischen Kategorien in engem Zusammenhang mit den stofflichenDimensionen der Natur betrachtet werden. Insofern ist der "Stoff" alszentrale Kategorie der Marx'schen Kapitalismuskritik zu behandeln.Dieser Ansatz ist nicht irrelevant: Wird die Bedeutung seines systematischenProgramms nicht richtig erfasst, so scheinen Marx' Aussagen überdie Natur als bloß isolierte und zerstreute Bemerkungen über negativeKonsequenzen der kapitalistischen Produktion, die bestens als "Zitatensteinbruch" benutzt werden könnten. Im Gegenteil, wenn man dieRolle des "Stoffs" im Zusammenhang mit der ökonomischen "Form"richtig versteht, kann man nicht nur die Ökologie als stabiles Momentseines Systems erfassen, sondern auch zugleich Marx' Kritik der politischenÖkonomie erst wahrhaft als System zu begreifen beginnen.Doch auch wenn es bei dieser vorliegenden Untersuchung um eine"systematische" Erforschung der Marx'schen Ökologie geht, ist freilichzuzugeben, dass Marx zu Lebzeiten kein geschlossenes System derpolitischen Ökonomie vollenden konnte: Der zweite und dritte Banddes Kapital wurden erst nach seinem Tod von Engels editiert und 1885und 1894 veröffentlicht. Marx' System ist also nicht abgeschlossen unddie Rekonstruktion des gesamten Systems ist eine noch heute wichtige,aber womöglich undurchführbare Aufgabe. Diese Tatsache bedeutetjedoch keineswegs, dass jeder Rekonstruktionsversuch zwangsläufigbruchstückhaft bleiben müsste. Denn die neue historisch-kritischeMarx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) publizierte in den letzten Jahrenviele der mehr als 100 Jahre nach Marx' Tod noch unveröffentlichtenMaterialien. Sie bietet somit der Marx-Forschung weitere höchstinformative Anhaltspunkte darüber, wie Marx sich um die Vollendungdes Kapital-Projekts bemühte. Nennenswert sind vor allem insgesamtacht Manuskripte für das zweite Buch des Kapital, die seit 2012 in derzweiten Abteilung der MEGA2 vollständig verfügbar sind (vgl. Hubmannund Roth 2013).Die herausragende Bedeutung der MEGA2 beschränkt sich abernicht darauf. Die neue Gesamtausgabe wird ferner in ihrer viertenAbteilungzum ersten Mal sämtliche Marx'schen Exzerpte, Notizen undMarginalien veröffentlichen. Diese Materialien sind für das vorliegendeThema von großer Bedeutung. Je weniger Marx ein bestimmtes Themaschriftlich ausführen konnte, desto wichtiger sind seine Exzerpte hierzu,da diese in vielen Fällen die einzige Quelle sind, die das Nachvollziehenseiner Absicht ermöglichen. Marx produzierte ein Drittel seinerExzerpte in den letzten zehn Jahren seines Lebens, wobei es in fast derHälfte der Exzerpte um Naturwissenschaften wie Biologie, Chemie,Botanik, Geologie, Mineralogie etc. geht (Sperl 2006: 15). Er konnteallerdings diese naturwissenschaftlichen Studien nicht mehr in seinepolitische Ökonomie integrieren, so dass ihre Bedeutung nach seinemTod verborgen blieb. Indem man seine spätere intensive Auseinandersetzungmit den Naturwissenschaften in Bezug auf Das Kapital sorgsamanalysiert, enthüllen diese Exzerpte jedoch die ökologische Dimensionals immanenten Bestandteil des Marx'schen Denkens. Da die frühereLiteratur über Marx' ökologische Theorie diese Dimension nicht genügendberücksichtigen konnte, weil die Exzerpte kaum zugänglichwaren, untersucht die vorliegende Studie die Exzerpthefte, um Marx'ökologische Kritik des Kapitalismus umfassender herauszuarbeiten. Eswird aufgezeigt, dass Marx mit größter Wahrscheinlichkeit viel stärkerdas Problem der ökologischen Krise als zentralen Widerspruch desKapitalismushervorgehoben hätte, wenn er das zweite und dritte Buchdes Kapital vollendet hätte.6Bedauerlicherweise wurden Marx' Exzerpte lange Zeit sogar vonden Experten marginalisiert und vernachlässigt. David Rjazanov, derbedeutende Leiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau und des Projektsder ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA1), erkannte zwar,dass "die rund zweieinhalbhundert erhalten gebliebenen Exzerpthefte[] überhaupt eine sehr wichtige Quelle für das Studium des Marxismusim allgemeinen und für die kritische Geschichte der einzelnenMarxschen Werke im besonderen [bilden]" (MEGA1 I/2: XVII, zitiertin Sperl 2000: 68 ff.). Jedoch hatte er damals geplant, Marx' Exzerptenur ausschnittweise zu veröffentlichen. Rjazanov sah keinen eigenen6 Burkett und Foster (2010a, b) erwähnen hin und wieder Marx' Exzerpte, um ihreBehauptungen zu untermauern. Allerdings meiden sie direkte Auseinandersetzungenmit ihnen, so dass ihre Hinweise die Chronologie und den inneren Zusammenhangder Exzerpte nicht zum Ausdruck bringen.18 Wert in den Exzerpten, weil sie meistens "bloße" Kopien von Büchernund Artikeln seien und hauptsächlich für die "Marx-Biographen" vonNutzen sein könnten (Rjazanov 1925: 392, 399).7Rjazanovs Entscheidung, die Marx'schen Exzerpte nur teilweisezu veröffentlichen, wurde schon damals von Benedikt Kautsky (1930:261 f.) kritisiert, da "Exzerpte aus den Exzerpten keinen Zweck" besitzen.Und Paul Weller, ein Kollege von Rjazanov, schlug später eineneue zusätzliche Abteilung zu Marx' und Engels' Studienheften für dieMEGA1 vor (Weller 1994 [1935]: 201 f.), die aber wegen des Terrors desStalinismus und der Unterbrechung des ersten MEGA-Projekts nichtverwirklicht wurde (vgl. Hecker 1997: 26 f.). Wellers Einsicht, dass dieExzerpte sehr genau Marx' Arbeitsprozess dokumentieren, erwies sichviel später als richtig und sein Vorschlag der vollständigen Veröffentlichungder Exzerpte von Marx und Engels wurde in die editorischeKonzeption der MEGA2 aufgenommen.Hans-Peter Harstick, der Marx' ethnologische Exzerpte herausgegebenhatte (Harstick 1977), betonte auf einer Tagung im Jahr 1992 mitvollem Recht die Bedeutsamkeit der vierten Abteilung der MEGA2 fürdie Marx-Forschung: "Die Quellengruppe Exzerpte, bibliographischeNotizen und Marginalien bildet die materiale Basis der geistigen Weltund des Werkes von Marx und Engels, sie ist für die Marx-Engels-Forschung und -Edition der Schlüssel zur geistigen Werkstatt beiderAutoren und damit im kongenialen Nachvollzug des Editors der geboteneZugang zum zeitgenössischen Kontext des historischen Marxbzw. Engels" (MEGA2 IV/32: 21). Alle Forscher, die sich primär mit Rjazanov schreibt auch: "Außerdem dachte ich, daß mit der Bibliothek nur die Notizheftevon Marx nach Berlin gesendet worden waren. Ich habe sie damals durchgesehenund mir einiges notiert, habe aber den Eindruck behalten, als handelte es sicheben nur um Notizhefte. [] Vorerst hatte es den Anschein, als bestände es auchbloß aus Notizen. Marx zitiert die Paragraphen irgendeines Buches und macht seineRandglossen dazu" (1925: 391 f., Herv. K. S.). Rjazanov habe erst später bemerkt,dass diese Randglossen eine Vorarbeit zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophieausmachen, und dementsprechend bezeichnete er nun jene "Notizen" als "Manuskript,das ich demnächst veröffentlichen werde" (ebd.: 392, Herv. K. S.). Aber dieserVerlauf zeigt exemplarisch, dass Marx selbst keinen strikten Unterschied zwischen"Notizen" und "Manuskripten" gemacht hatte. Für Marx war alles ein Prozess. Dasmusste auch Rjazanov nach der direkten Auseinandersetzung mit Marx' Notizhefteneinräumen, aber er wies dennoch die Notwendigkeit der Gesamtveröffentlichungder Exzerpte zurück.der MEGA-Edition beschäftigen, sind heute mit Harstick einverstanden.Sie bezeichnen die vierte Abteilung der MEGA2 sogar als die "interessanteste" (Hundt 2011: 116), da die Exzerpte durch Umstellungen,Abkürzungen, Randanstreichungen etc. Aufschluss darüber geben, wofürMarx sich jeweils interessierte und was er zu studieren oder zu kritisierenversuchte. Das große Manko der gegenwärtigen Marx-Forschungist aber, dass es trotz der mehr als 20 Jahre zurückliegenden BemerkungHarsticks nur eine Handvoll Forschungen gab, die diesen "Schlüssel"wirkungsvoll verwenden, um die bisher unbekannte Entwicklung derMarx'schen Theorie in die Debatte einzubringen.8 Diese Rückständigkeitist nun dringend zu ändern, um der Öffentlichkeit überzeugendzu zeigen, warum die Fortsetzung des MEGA-Projekts, welches dieExzerpte zum ersten Mal vollständig zur Verfügung stellen wird, unerlässlichist. Der vorliegende Beitrag geht daher in vielerlei Hinsicht mithilfeveröffentlichter und unveröffentlichter Exzerpte Marx' offenemArbeitsprozess nach, um seine ökologische Kritik des Kapitalismus zurekonstruieren.9Durch die Rekonstruktion des Marx'schen Arbeitsprozesses in dennaturwissenschaftlichen Exzerpten wird deutlich, wie in Marx' Projektdie Ökologie stetig an Bedeutung gewann und er in der Konsequenzseine frühere optimistische Einschätzung der emanzipatorischen Potenzialitätdes Kapitalismus ganz bewusst korrigierte. Marx' "historischerMaterialismus" wird wie schon erwähnt oft wegen der angeblich naiventechnokratischen Voraussetzung kritisiert. Die Untersuchung der Exzerptewird dagegen zeigen, dass Marx eigentlich keine bloß optimistischeVision der Zukunft auf der Basis einer unendlichen Entwicklungder Produktivität imaginierte, sondern dass er im Gegenteil die stofflichenNaturgrenzen der menschlichen Produktion deutlich erkennt,um sogar die spannungsvolle Beziehung zwischen Kapital und Naturals zentralen Widerspruch des Kapitalismus zu erörtern. So rezipierte8 Die naturwissenschaftlichen Exzerpte sind mit Ausnahme der "Einführung" vonAnneliese Griese zu den MEGA2-Bänden IV/26 und IV/31 und der "Einführung"von Carl-Erich Vollgraf zum MEGA2-Band II/4. 3 nur selten detailliert analysiertworden. Als weitere Forschungen zu Marx' Exzerptheften sind lediglich Schrader(1980), Anderson (2010), Lindner (2011) und Pradella (2014) zu nennen.9 Foster und Burkett erkennen bezüglich der Ökologie keine entscheidende Differenzzwischen Marx und Engels. Ich beschränke jedoch meine Untersuchung aufMarx' Kritik der politischen Ökonomie, ohne auf Engels' Ökologie einzugehen.20 er während der Vorbereitung der Bodenrententheorie verschiedene naturwissenschaftlicheTexte und Theorien, vor allem Justus von LiebigsAgrikulturchemie, die zur neuen naturwissenschaftlichen Basis für seineKritik am Gesetz des abnehmenden Bodenertrags wurde. Daher forderter im Kapital die bewusste und nachhaltige Regulierung des Stoffwechselszwischen Mensch und Natur als zentrale Aufgabe des Sozialismus(Kapitel 4).In diesem Kontext ist schon in dieser Einleitung zu betonen, dassMarx' naturwissenschaftliche Auseinandersetzung im Zusammenhangmit seiner theoretischen Formation zu verstehen ist. Seine Exzerpteverdeutlichendie Tatsache, dass sich seine wissenschaftlichen Studienkaum in einer "Suche nach einem wissenschaftlichen Weltbild" (Sandkühler1991: 22) erschöpfen. Ebenso kann die in der Vergangenheit wiederholtvorgebrachte Behauptung zurückgewiesen werden, dass Marxmithilfe der neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen darauf abzielte,nach der Tradition der klassischen deutschen Naturphilosophievon Hegel und Schelling über die Totalität der Welt in allen Phänomenen"philosophische Verallgemeinerungen treffen zu können" (Kliem1970: 482). Der vorliegende Beitrag versucht hingegen, Marx' naturwissenschaftlicheForschung, unabhängig von jedem totalisierenden Weltbild,im Kontext seiner unvollendeten Kritik der politischen Ökonomiezu untersuchen.10 Dabei ist die theoretische Erfassung der Ökologie beiMarx umso wichtiger, weil er darin die destruktiven Modifikationen derstofflichen Welt durch die versachlichte Logik des Kapitals als wesentlichesThema behandelt.Wie im 5. Kapitel gezeigt wird, verabschiedete sich Marx infolgeseiner Liebig-Rezeption von 1865/66 ganz bewusst vom reduktionistischenprometheischen Modell der gesellschaftlichen Entwicklung undbegründete eine wahrhaft kritische Theorie der nachhaltigen menschlichenEntwicklung. Im Vergleich zu den Londoner Heften, in denenMarx' Optimismus das Problem der Erschöpfung durch die moderneAgrikultur eher vernachlässigt hatte, zeigen seine Exzerpthefte von1865/66 deutlich, wie er über die Auseinandersetzung mit Justus vonLiebig, James F. W. Johnston und Léonce de Lavergne seine neue kriti-10 Insofern stimme ich Vollgrafs Aussage (1994: 92) zu: "Ich warne meinerseits davor,die offenen ökonomischen Probleme durch ein wltanschaulich totalitäres und imgewissen Sinne versatiles Interpretationsschema zu verniedlichen".Einleitung 21sche Theorie der modernen Landwirtschaft herausbildete. Er setzt sichsomit mit dem Widerspruch der kapitalistischen Produktion als globaleStörung des Stoffwechsels auseinander. Dass sie sich nicht einfach aufdie Grundrententheorie beschränken lässt, sondern darüber hinaus dietheoretische Grundlage für die Kritik des "ökologischen Imperialismus" vorbereitet, zeigt Marx' Ricardo-Kritik anhand der sogenannten"Irland-Frage" am deutlichsten.Allerdings verabsolutierte Marx Liebigs Agrikulturchemie nicht,wie wichtig dessen Theorie des Stoffwechsels für seine Kritik des Kapitalismusauch war. Wie im 6. Kapitel ausgeführt wird, beschäftigte Marxsich im Jahr 1868 gleich nach der Veröffentlichung des ersten Bandesdes Kapital mit weiteren naturwissenschaftlichen Schriften, und zwarmit solchen, die Liebigs Theorie der Bodenerschöpfung kritisierten.Schon bald relativierte er seine Bewertung Liebigs und propagiertenoch leidenschaftlicher die im Kommunismus zu verwirklichende Notwendigkeitdes vernünftigeren Umgangs mit der Natur. In der historischenUntersuchung des Liebig-Kritikers Carl Fraas entdeckte er sogareine "sozialistische Tendenz". Wenngleich Marx später diese neueWertschätzung für Fraas nicht völlig in das Kapital integrieren konnte,kann man anhand des Fraas-Exzerpts erkennen, warum die Naturwissenschaftenfür Marx' Studien nach 1868 eine zunehmende Bedeutunggewannen. Das Jahr 1868 markiert eine neue Periode der Marx'schenKritik des Kapitalismus.Trotz ihrer Unvollendetheit erlaubt uns Marx' politische Ökonomiealso, die ökologische Krise als Widerspruch des Kapitalismus zu behandeln,indem sie die Dynamik des kapitalistischen Systems darstellt, derzufolge der schrankenlose Trieb des Kapitals die stofflichen Bedingungenseiner Verwertung untergraben und schließlich gegen die Grenzeder Natur prallen muss. Der Ausdruck " " meintallerdings freilich nicht, dass die Natur automatisch gegen den Kapitalismuswirken und zu dessen Ende führen würde. Der Kapitalismuskönnte immer weiter von der rücksichtslosen Ausbeutung des Naturreichtumsprofitieren, bis die Natur derartig zerstört ist, dass ein großerTeil der Erde unbewohnbar würde. In Marx' Theorie des Stoffwechselsnimmt jedoch die Natur einen bedeutenden Stellenwert für den Widerstandgegen das Kapital ein. Denn das Kapital kann die Natur nicht willkürlichunter seine ökonomischen Formbestimmungen subsumieren,sondern es zerstört die fundamentale materielle Bedingung der freien22 menschlichen Entwicklung in immer größerem Umfang. Marx erkenntin der Zerstörung der Umwelt durch das Kapital die Chance auf dieBildung einer neuen revolutionären Subjektivität, die eine radikale Umwälzungder gesellschaftlichen Produktionsweise fordert, um die freieund nachhaltige Entwicklung des Menschen zu verwirklichen. Insofernist Marx' Ökologie weder deterministisch noch apokalyptisch, sondernpropagiert mit dem gesellschaftlichen und natürlichen Stoffwechsel diestrategische Wichtigkeit der Beschränkung der versachlichten Machtdes Kapitals, um das Mensch-Natur-Verhältnis in eine nachhaltige Gestalttransformieren zu können. Hierin besteht der Knotenpunkt des"roten" und "grünen" Projekts im 21. Jahrhundert, über das uns Marxnoch viel zu sagen hat.
Inhalt
Inhalt
Vorwort 7
Einleitung: Marx' Ökologie heute? 9
Teil I Ökologie und Ökonomie
1 Die Entfremdung der Natur als Entstehung der Moderne 25
1.1"Entfremdung" als philosophische Kategorie? 27
1.2 Die Auflösung der ursprünglichen Mensch-Natur-Einheit 36
1.3 Die Kontinuität einer Theorie 47
1.4 Der Abschied von der Philosophie 54
2 Stoffwechsel der politischen Ökonomie 67
2.1 Natur als Stoff allen Reichtums 69
2.2 Die Genealogie des Stoffwechselbegriffs 74
2.3 Die Grenze des anthropologischen Materialismus 87
2.4 Über den"naturwissenschaftlichen Materialismus" hinaus 96
2.5 Die Rolle der Physiologie in den Grundrissen 102
3 Das Kapital als Theorie des Stoffwechsels 110
3.1 Der Arbeitsprozess als übergeschichtlicher Stoffwechsel 112
3.2 Versachlichung als Kern der Marx'schen Theorie 114
3.3"Stoff" und"Form" 127
3.4 Die kapitalistische Transformation des Stoffwechsels 136
3.5 Der Widerspruch des Kapitals in der Natur 147
3.6 Natur gegen Kapital
Teil II Marx' Ökologie und die Marx-Engels-Gesamtausgabe
4 Liebig und Das Kapital 159
4.1 Marx' Theorie der Grundrente vor 1865 161
4.2 Liebigs Erkenntnis der Naturgrenze 172
4.3 Roschers Liebig-Rezeption 183
4.4 Die negative Intensivierung der modernen Landwirtschaft 191
5 Dünger gegen den Raubbau? 200
5.1 Pessimismus oder Optimismus? 202
5.2 Die optimistischen Chemiker des 19 Jahrhunderts 212
5.3 Liebigs problematische Polemik 217
5 4 Die Entstehung der Kritik der modernen Landwirtschaft 223
5.5 Der ökologische Imperialismus und die globale Krise 231
5.6 Von der Vergeudung zur nachhaltigen Produktion 243
6 Marx' Ökologie nach 1868 249
6.1 Zweifel an Liebig? 251
6.2 Das"Malthus'sche Gespenst" 257
6.3 Die Begegnung mit der"Agrikulturphysik" 263
6.4 Fraas' Kraftkultur- und Alluvionstheorie 271
6.5 Der Klimawandel als Gefahr für die Zivilisation 277
6.6 Klimawandel als Grenze der stofflichen Welt 286
Schluss 297
Literatur 308
Personenregister 325
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