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Objekt Leiche

Technisierung, Ökonomisierung und Inszenierung toter Körper, Todesbilder, Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod 1, Todesbilder. Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod 1

Erschienen am 08.02.2010, 1. Auflage 2010
52,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593391663
Sprache: Deutsch
Umfang: 588 S.
Format (T/L/B): 3.7 x 21.4 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Im Zentrum des Bandes stehen der Leichnam und seine Nutzbarmachung in verschiedenen Kulturen und Epochen: der Wandel von Trauer- und Bestattungsriten, die Darstellung toter Körper in Kunst und Literatur, die Leiche im Kontext des Krieges, ihr Stellenwert in den Religionen bis hin zur Weiterbehandlung mit modernen Techniken wie Tiefkühlung oder Diamantisierung.

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Autorenportrait

Dominik Groß, Historiker, Ethiker und Mediziner, ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen. Die Literaturwissenschaftlerin Jasmin Grande arbeitet an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Leseprobe

Die Aneignung des menschlichen Leichnams: Facetten eines wenig beleuchteten Phänomens Dominik Groß und Richard Kühl 1. Einführung Der Tod ist nicht die Leiche, und die Leiche ist nicht der Tod. Gleichwohl markiert die Leiche die materielle Tatsache des Todes: Sie indiziert den Tod. Die Auseinandersetzung mit dem Tod und mit dem toten Körper als dessen stärkster Konkretisierung bedeutet dabei unabhängig von Epoche, Kulturraum, politischem System und religiöser Überzeugung eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Der Tod fordert die Lebenden heraus; er will individuell und kollektiv, mental und physisch bewältigt werden - ein Sachverhalt, den Klaus Freitag mit Blick auf die griechische Antike als "Domestizierung des Unbegreiflichen" bezeichnet hat. Dabei wird der Leichnam in verschiedenen Kulturen, religiösen oder sozialen Kontexten durchaus unterschiedlich wahrgenommen und gedacht - sei es als konkreter Gegenstand, als (fortwirkende) Person, als Inbegriff des Transzendenten oder als Hülle, welche auch nach dem Tod zu konservieren war, weil sie im Jenseits genau so wieder gebraucht wurde. Trotz der Unvermeidlichkeit des Todes und der einzigartigen Stellung des Leichnams sind die formellen, politischen und symbolischen Einzelaspekte des Umgangs mit dem toten Körper, ihre Interdependenzen und kulturellen Bedingtheiten bislang nur wenig gewürdigt und noch kaum in einen interdisziplinären Kontext gestellt worden. Bemerkenswerterweise ist gerade die facettenreiche Forschungsfrage, inwieweit bzw. in welcher Form der menschliche Körper in den Dienst der Überlebenden gestellt wurde und wird, bislang allenfalls ansatzweise systematisch untersucht worden. Im Mittelpunkt des vorliegenden Themenbandes steht daher eben dieser spezifische Aspekt der menschlichen Leiche: ihre Nutzbarmachung bzw. ihr Einsatz als (technische) Ressource. Der soziale, politische, religiöse oder symbolische Sinngehalt des Leichnams entsteht im komplexen Wechselspiel zwischen sich durchsetzenden und akzeptierenden Sinnproduzenten. Diese Form der Aneignung des toten Körpers geht einher mit fortwährenden Zuschreibungen im Rahmen sozialer Interaktionen: Hierher gehören Trauer- und Bestattungsriten sowie Erinnerungskulturen inklusive der Schaffung visueller und sprachlicher, konkreter und virtueller Kommunikationswelten rund um den Toten, seine sterblichen Überreste und den Ort der Trauer. Dabei ist der soziale Umgang mit dem Leichnam Armin Heinen zufolge stark kontextabhängig: Der konkrete soziale Sinnzusammenhang entscheidet darüber, welchen Nutzen der tote Körper den Lebenden stiftet. Zustimmungsfähig wird die Aneignung der Leiche erst durch einen öffentlichen Akt, als "Aneignung unter gemeinschaftlicher Kontrolle". Zu fragen ist auch, in welchen Transferformen uns tote Körper in der kulturellen Praxis begegnen, etwa in der Kunst, Musik oder Literatur. Schließlich ist auch die konkrete Ebene anzusprechen, das heißt die Aneignung des materiellen Leichnams - zum Beispiel im Rahmen des kommerziellen Handels mit Leichenteilen oder einer anatomischen Sektion für Lehr- und Forschungszwecke. Die hier skizzierte Forschungsfrage bleibt nicht auf einzelne zeitlich, örtlich oder inhaltlich begrenzte Fragestellungen und Entwicklungen beschränkt, sondern wendet sich dezidiert verschiedenen Epochen, politischen Systemen und soziokulturellen Kontexten zu, um so - in transdisziplinärer Perspektive - höchst unterschiedliche Formen der Instrumentalisierung des toten Körpers freilegen zu können. Die Indienstnahme des Leichnams soll hierbei in einem doppelten Sinn zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden: Angesprochen ist zum einen die Aneignung des Leichnams durch Dritte - sei es in medizinischer, politischer, gesellschaftlicher, kultureller, ökonomischer oder symbolischer Hinsicht. Weit weniger offensichtlich, wenngleich nicht weniger bedeutsam, sind zum anderen Bestrebungen, den eigenen Leichnam für die Zeit nach dem Tod zu funktionalisieren bzw. für persönliche Ziele dienstbar zu machen. 2. Die Aneignung des Leichnams durch Dritte Was die Aneignung des Leichnams durch Dritte betrifft, so ist mit Blick auf aktuelle und künftige Entwicklungen insbesondere der kommerzielle Handel mit Leichen(teilen) und deren (technische) Wiederverwertung in der Medizin von Bedeutung: Konkrete Beispiele sind Organe und Gewebe wie Hornhäute, Knorpel, Knochen, Sehnen oder Herzklappen von Verstorbenen und ihre Verwendung bei Lebenden. Ein zerlegter, vergleichsweise junger toter Körper kann bis zu 250.000 Euro wert sein - eine Perspektive, die Martina Keller veranlasst, die Leiche "als Schatz des 21. Jahrhunderts" zu titulieren. Doch die Dienstbarmachung des toten Körpers kann je nach Epoche, Kulturraum und Intention völlig unterschiedliche und weit weniger vordergründige Formen annehmen. So kann der Leichnam - um mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu sprechen - als "symbolisches Kapital" interpretiert werden, das sich in Form von Autorität, Berühmtheit, Ehre, Prestige, Heiligkeit, Charisma, Tradition, Treue oder Würde manifestieren, Deutungshoheiten zementieren, Machtansprüche begründen, legitimieren oder unterhalten kann. Insbesondere die Aneignung des Leichnams herausragender Persönlichkeiten, wie die eines Herrschers, ermöglichte die Sinnfindung, Identitätsbildung und politische bzw. gesellschaftliche Legitimation Einzelner wie auch sozialer Gruppierungen. Tatsächlich lässt sich zum Beispiel bereits bei oberflächlicher Betrachtung der Bestattungsrituale in den griechischen Poleis feststellen, dass der tote Körper herausgehobener Mitglieder der Gemeinschaft im antiken Griechenland nicht zuletzt auch der Legitimierung von Herrschaft diente. In der griechischen Antike war die Leiche Bestandteil einer ausgeklügelten Inszenierung, die das Ziel verfolgte, gesellschaftliche Ordnung und Hierarchie abzubilden. In den Bestattungsritualen der Poleis ging es nicht in erster Linie um die Toten, ihre Leiche oder ihr ultimatives Schicksal. Im Zentrum stand vielmehr die Bedeutung des Toten für die Überlebenden, die sich im Angesicht des Todesereignisses als Gruppe in einem komplexen Ritual neu formierten. Gegebenenfalls nutzten Personen aus dieser Gruppe die Gelegenheit, anlässlich der Bestattung ihren politischen und sozialen Einfluss öffentlich zu machen bzw. diesen in Konkurrenz zu anderen unter Beweis zu stellen. Eine derartige Form der Aneignung des Leichnams ist auch in der römischen laudatio funebris zu erkennen, die unter anderem als Mechanismus im Kampf der einflussreichen römischen Familien um politisches Ansehen und Macht interpretiert werden kann. Die Grenzen zwischen Totenklage und Instrumentalisierung des Toten waren äußerst fließend. So hielt etwa Caesar, wie David Engels ausführt, am Beginn seine Karriere eine Laudatio auf seine verstorbene Tante, "indem er die bis zu den Göttern reichende Genealogie der Gens Iulia aufzählte". Caesars Leichnam beförderte wiederum die politische Karriere seiner Nachfolger: So schlug Marc Anton Kapital daraus, dass er dem römischen Volk das blutgetränkte Gewand des toten Diktators vorführte. Von der antiken Rhetorik und der Totenrede als einer der genera dicendi kann die Weiterschreibung der Tradition bis in die Gegenwart nachvollzogen werden. Nicht zuletzt ließe sich hier der Übergang von der Oralität zur Literalität festmachen, denn Totenreden haben Eingang in schriftlich tradierte Sammlungen von Totenreden gefunden und sind Teil einer literarischen Praxis geworden.