Beschreibung
Welche Rolle spielt die Theorie in der Geschichtswissenschaft und was machen Historiker, wenn sie vorgeben, eine Theorie anzuwenden? An unterschiedlichen Beispielen aus der Praxis des historischen Forschens werden diese Fragen durchgespielt. Die Beispiele reichen von hermeneutischen und diskursanalytischen Theorien über die Textphilologie bis hin zur Ideen- und Begriffsgeschichte.
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Autorenportrait
Matthias Pohlig arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichtswissenschaften an der HU Berlin, Jens Hacke ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften.
Leseprobe
Dass sich Historikerinnen und Historiker mit Theoriefragen beschäftigen, ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Zunft, wie sich die standesbewussten Geschichtswissenschaftler gern bezeichnen, hat nicht nur Spezialisten für Historiographiegeschichte und für theoretische Fragen hervorgebracht (z.B. Reinhart Koselleck, Jörn Rüsen oder Ernst Schulin), sondern es ist zur begrüßenswerten Normalität geworden, dass die Beschäftigung mit theoretischen Fragen bis in die Alltagsarbeit des Fachs reicht. Sie gehört essentiell zum Beruf des Historikers, und durch die Beschäftigung mit Theorie kann der einzelne Fachvertreter Resonanz und - günstigen Falles - Respekt und Reputation über sein Spezialgebiet hinaus erlangen. Kaum eine Ausgabe einer angesehenen historischen Fachzeitschrift erscheint ohne dezidiert theorieinteressierte Aufsätze. Schon dies reicht als Beleg dafür, in welch manchmal beeindruckender Weise Historiker die Theorieangebote der geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen rezipieren. Es scheint also gut bestellt um das Reflexionsniveau geschichtstheoretischer Fragen, denn auf grundsätzlicher Ebene kann man sich auch hervorragend zur Propädeutik des Faches und zu allgemeinen erkenntnistheoretischen Fragen, die die Geschichte betreffen, informieren. Trotzdem bleibt bei dieser Flut von Literatur zum Thema ein Unbehagen. Nicht selten entsteht der Eindruck, dass "der Alltag des Historikers und die historische Theorie" relativ unvermittelt nebeneinander stehen, wie Christian Meier bereits in einem Aufsatz vor gut drei Jahrzehnten beklagt. Meier wirft darin einige Fragen auf, die sich für jeden Geschichtsstudenten, Doktoranden und Habilitanden immer noch quälend stellen: Man solle sich, so Meier, "sehr genau darüber klar werden, was eigentlich die historische Praxis an Theorie braucht, was für eine Theorie sie braucht und wie diese Theorie erarbeitet werden kann". Heute lassen sich diese Fragen wiederholen und variieren:Was kann Theorie für die Geschichte bedeuten? Was machen Historiker, wenn sie vorgeben, theoriegeleitet zu arbeiten oder eine Theorie anzuwenden? Diese Fragen sind absichtlich in aller Naivität gestellt, denn im Bereich des Theoriegebrauchs oder auch der Theorieanwendung in der Geschichtswissenschaft bleiben nicht wenige Probleme ungeklärt. Diese sind durch die jüngste, die fünfte theoretische Grundlagendiskussion des Fachs zwischen Sozial- und Kulturgeschichte in den 90er Jahren kaum angegangen und noch weniger beantwortet worden. Es geht im Folgenden nicht darum, in dieser speziellen Debatte (oder in einer der anderen vier) Stellung zu beziehen; die hier interessierenden Probleme sind letztlich allen Debattenteilnehmern gemeinsam. Wenn auf diese und andere Debatten eingegangen wird, dann im Sinne exemplarischer Illustration. Die Geschichte sei theoriebedürftig, ihre Theoriedefizite behinderten ihre Wissenschaftlichkeit, so lautete der Befund in den 1970er Jahren.Was dies hieß, schien lange Zeit klar: Der Blick auf theoretisch avancierte Nachbarwissenschaften sollte die Selbstbeschränkung der Historie auf Quelleninterpretation aufheben und den Blick weiten. Mit der Etablierung der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, die sich von traditionellen theoretischen, methodischen und damit (so die Vermutung) implizit politischen Positionen der Geschichtswissenschaft abzugrenzen suchte, begannen die fachlichen Theoriediskussionen im eigentlichen Sinne. Der Gegner war ebenfalls klar markiert: Er trat auf in Gestalt des Historismus bzw. Neohistorismus (Nipperdey, Lübbe, Golo Mann), der sich lediglich auf den vorwissenschaftlichen und vortheoretischen Common sense, beruhend auf Kenntnissen und Erfahrungen, beschränkte und auf die Narrativität und Individualität von Geschichten Wert legte. Schon das provokative Beharren des Neohistorismus auf einer "Theorieunfähigkeit der Geschichte" bezeichnete das Dilemma, das im Gebrauch des Begriffs Theorie selbst begründet liegt. Der Widerstand gegen eine theoretisch begründete Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses - eine eher geschichtsphilosophische Kategorie - führte zuweilen seitens des Neohistorismus zu einer überzogen wirkenden Verdammung des Theoriebegriffs insgesamt: Theorie wurde tendenziell mit Marxismus bzw. Geschichtsphilosophie gleichgesetzt. Hier wurde Poppers Klage über "Das Elend des Historizismus" wirksam. Gleichzeitig entstand bei den Advokaten der modernen Historischen Sozialwissenschaft eine hektische Betriebsamkeit, um für die Historie die lange entbehrte Theorie bereitzustellen. Die Theoriebegeisterung trieb hier bisweilen naive Blüten; teilweise konnte schon der Anschluss an eine übergreifende These aus dem Arsenal der Modernisierungstheorie, des Marxismus oder natürlich der Soziologie Webers progressiv das Theoriebewusstsein des Historikers nachweisen. Ebenfalls in den 1970er Jahren fanden aber Debatten zum Theoriegebrauch in der Geschichtswissenschaft statt, die weitaus vielschichtiger geführt wurden, als es heute manchmal wirken mag. "Theorien in der Praxis des Historikers" heißt ein Sammelband, der vor 30 Jahren erschien. Nun scheinen sich sowohl das Reservoir an Theorien, auf die Historiker zugreifen, als auch die Praxis des Historikers seitdem durchaus verändert zu haben: Grund genug, um noch einmal in die Debatte einzusteigen. Schon in der Schlussdiskussion des genannten Bandes, dem leider keine tief greifenden Diskussionen mehr gefolgt sind, bemerkte Wolfgang Mommsen, "daß über die Frage der Anwendung theoretischer Konzepte und Modelle auf geschichtliche Fragestellungen noch erhebliche Unklarheiten und Unsicherheiten bestehen." Dies scheint heute nicht anders zu sein; und die Maxime, dass jede Zeit ihre Geschichte selbst zu schreiben hat, hat auch in dieser Hinsicht ihre Aktualität behalten.
Inhalt
Einleitung: Was bedeutet Theorie für die Praxis des Historikers? Matthias Pohlig und Jens Hacke Geschmack und Urteilskraft. Historiker und die Theorie Matthias Pohlig Braucht man für das Verstehen eine Theorie? Bekenntnisse eines Neohermeneutikers Daniel Morat Der mittelalterliche Text zwischen Theorie und Praxis Damien Kempf Der Historiker, der Text und die Theorien: Ein Werkstattbericht über die Erforschung des "Heidentums" Michael Brauer Gibt es eine historische Wirklichkeit und wie können Historiker von ihr erzählen? Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Ethnologie Jörg Baberowski Was macht die Theorie in der Geschichte? "Praxeologie" als Anwendung des "gesunden Menschenverstandes" Rüdiger Graf Das Individuelle und das Allgemeine. "Theorie" in der Tradition des geschichtswissenschaftlichen Methodenstreits Philipp Müller Politische Ideengeschichte und die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Im Spannungsfeld historischer und politiktheoretisch geleiteter Absichten Jens Hacke Am Erwartungshorizont der Begriffsgeschichte. Reinhart Koselleck und die ungeschriebenen Grundbegriffe der Bundesrepublik Stephan Schlak Endlich Klartext. Medientheorie und Geschichte Jan-Friedrich Mißfelder Zehn Jahre theorieabhängig. Ein Erfahrungsbericht Per Leo Autoren
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Eigene und fremde Welten