Beschreibung
Viele Menschen fürchten sich vor einer grenzenlosen medizinischen Behandlung am Ende ihres Lebens. Dabei wird übersehen: Einschränkungen etwa lebenserhaltender Maßnahmen gehören längst zur Routine des ärztlichen Alltags. Doch wer soll entscheiden? Stephan Sahm beleuchtet Fragen der Sterbebegleitung, konfrontiert die rechtliche Sicht mit der modernen Medizinethik, zeigt Widersprüche in der Rechtsprechung auf und verbindet seine Analyse mit einer Kritik an der aktiven Sterbehilfe. Besonders das Instrument der Patientenverfügung unterzieht er dabei einer genaueren Betrachtung.
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Leseprobe
Leseprobe: Die Grenzen medizinischer Behandlung am Lebensende zu bestimmen, zählt seit Einführung der Intensivmedizin zu den großen ethischen Herausforderungen. Die Pflicht zum Lebenserhalt stößt an ihre Grenzen, wo vielmehr der Verzicht auf lebensverlängernde Behandlung bei Sterbenden geboten ist. Das Postulat, ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen, und die Verpflichtung, das Leben zu schützen und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten, umgrenzen das Spannungsfeld, in dem sich die Problematik medizinischer Behandlung am Lebensende entfaltet. Diesen divergierenden Ansprüchen gerecht zu werden, ist schwierig. Vieles spricht dafür, daß Patienten an ihrem Lebensende häufig "übertherapiert" werden. Eine solche Übertherapie kann Leiden vermehren und steht nicht selten im Widerspruch zum Willen der Betroffenen. Sie muß, und sei sie in der vermeintlich guten Absicht ausgeführt, nichts unversucht zu lassen, zu den Fehlern der ärztlichen Kunst gerechnet werden. Als Fehler der ärztlichen Kunst werden fehlerhaft durchgeführte Eingriffe in Diagnostik und Therapie oder Versäumnisse bei der Aufklärung angesehen. daß aber eine übermäßige Behandlung ebenso gegen etablierte medizinische Regeln verstößt, wird von Ärzten oft nicht erkannt. Die Behauptung, Übertherapie sei ein Kunstfehler, bezieht sich mithin auf die Medizin als praktische Wissenschaft und gilt ungeachtet juristischer Bewertung. Es gehört zu den zentralen ärztlichen Aufgaben, das richtige Maß medizinischer Behandlung am Lebensende zu bestimmen. Dies betrifft nicht nur die Frage der medizinischen Effektivität einzelner Maßnahmen. Grundlage jedes Urteils über das angemessene Ausmaß der Behandlung muß auch das Wissen um die ethischen und rechtlichen Grenzen sein. Weder die rechtlichen Regelungen (etwa das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland) noch Ethik und Moral gebieten einen Lebenserhalt um jeden Preis. Ärzte sind nicht verpflichtet, immer alle verfügbaren Mittel für die Erhaltung des Lebens einzusetzen. Vielmehr folgt aus den Bestimmungen des Grundgesetzes ein Recht auf menschenwürdiges Sterben. Daneben muß jede Entscheidung über eine medizinische Behandlung das Recht auf Selbstbestimmung des Menschen beachten. Es zählt zu den satzungsmäßigen Aufgaben der Bundesärztekammer, ein privatrechtlicher Zusammenschluß der Landesärztekammern, auf einheitliche Regelungen der Berufspflichten hinzuwirken. Dazu kann sie sich verschiedener Instrumente bedienen, etwa der Richtlinien, die jedoch erst durch Beschluß der Landesärztekammern - aufgrund der jeweiligen Landesheilberufsgesetze - berufsrechtlich relevant werden. Daneben existieren weitere Handlungsformen wie Leitlinien oder Empfehlungen. Doch Richtlinien schaffen kein Gesetz, ersetzen auch nicht ärztliches Standesrecht. Aber die Rechtsprechung verweist vielfach auf medizinethische Äußerungen der Ärzteschaft, nicht zuletzt der Bundesärztekammer. So wird etwa in einschlägigen Urteilen des Bundesgerichtshofes aus den Jahren 1994 und 2003 ausführlich auf Stellungnahmen der Bundesärztekammer Bezug genommen. Insofern vermögen Dokumente der Medizinethik auf die Rechtsprechung wesentlichen Einfluß zu nehmen. In diesem Sachverhalt verwirklicht sich, was als eine Kontrollfunktion medizinethischer Reflexion für die Entwicklung des Rechts bezeichnet werden kann. Die Bundesärztekammer hat, ebenso wie die ärztlichen Standesorganisationen anderer Länder, mehrfach zu den ethischen Fragen der Behandlung am Lebensende Stellung genommen. 1979 veröffentlichte die Kammer Richtlinien für die Sterbehilfe. Sie wurden 1993 überarbeitet und unter dem Titel Richtlinien für die Sterbebegleitung publiziert. Bereits wenige Jahre später schien eine erneute Überarbeitung notwendig. Anlaß waren die Entwicklung der Rechtsprechung in Deutschland und die internationale Diskussion über die Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe. Die Gesellschaft im Ganzen, in besonderer Weise aber die Ärzteschaft, sieht sich mit einer Herausforderung konfrontiert, der sie sich nicht leicht entziehen kann. Im Jahr 1997 präsentierte die Bundesärztekammer den Entwurf eines Dokumentes, der die ethischen Grundsätze und Positionen der Ärzteschaft zur Sterbebegleitung neuerlich zusammenfaßte. Die Ärzteschaft wollte damit ihre ethische Position ausdrücklich der öffentlichen Kritik stellen. Dieser Vorgang selbst ist bemerkenswert. Denn erstmalig veröffentlichte die Kammer ein bioethisches Dokument im Entwurf noch vor seiner Verabschiedung und gab so den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen Gelegenheit zur Kritik. Nach eingehender Diskussion wurden schließlich die Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung im Herbst 1998 verabschiedet. Im Jahre 2004 wurden die Grundsätze novelliert, wobei nur wenige und geringfügige Änderungen des Textes vorgenommen wurden. Die der Veröffentlichung der Grundsätze vorausgehende Debatte wurde kontrovers geführt und fand auch in den Medien ihren Niederschlag., Einige Kritiker warfen der zuständigen Kommission der Bundesärztekammer vor, die Tür zur aktiven Sterbehilfe geöffnet zu haben. So wurde etwa behauptet, die Ärzteschaft strebe eine Änderung ihrer Haltung zur Sterbehilfe an. Der Vorwurf bezog sich auf eine Passage des Entwurfes, der sich mit der Frage der künstlichen Ernährung bei Patienten in einem persistent vegetative state, das heißt dem Wachkoma, befaßte. Vornehmlich Vertreter von Patientenorganisationen, die sich für deren Rechte einsetzen, kritisierten die entsprechende Formulierung. Die Kritiker befürchteten einen ethischen Dammbruch. Die Anschuldigung, die Ärzteschaft beschreite in ihren Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung einen Weg, der hin zur Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe führe, erwies sich jedoch als haltlos. Doch dokumentiert sich in dieser Verlautbarung ein bemerkenswerter konzeptioneller Wandel, der in der öffentlichen Debatte und der akademisch geführten Diskussion bislang noch wenig wahrgenommen wird. Die Ärzteschaft lehnt in den Grundsätzen die aktive Sterbehilfe eindeutig ab. Die Abgrenzung zwischen Therapieverzicht bzw. Beendigung spezifischer Therapiemaßnahmen und aktiver Sterbehilfe wird allerdings in eine neuartige begriffliche Konzeption gefaßt. Die medizinethische und rechtswissenschaftliche Literatur, geschweige denn die Rechtsprechung, hat diese Entwicklung bislang nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Angesichts der nicht selten dramatischen Konflikte, denen sich Patienten, Angehörige und Behandlungsteams bei der Entscheidung über das Ausmaß medizinischer Behandlung am Lebensende ausgesetzt sehen, verdienen diese von der Ärzteschaft verwendeten Begriffe und Konzeptionen aber eine eingehende ethische Analyse. Es waren nicht zuletzt aufsehenerregende Rechtsfälle, die es notwendig erscheinen ließen, die Haltung der Ärzteschaft zu Fragen der Sterbehilfe neu zu formulieren. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht der so genannte Kemptener Fall. Der Arzt einer siebzig Jahre alten Patientin im Wachkoma und deren Sohn wollten die bislang durchgeführte künstliche Ernährung beenden. Eine Verbesserung des Zustandes der Patientin war nach übereinstimmender Ansicht der behandelnden Mediziner nach zweijährigem Verlauf nicht mehr zu erwarten. Die Entscheidung, die Ernährung abzubrechen, trafen der Sohn der Patientin und der behandelnde Arzt gemeinsam. Sie unterschrieben beide einen entsprechenden Vermerk in der Krankenakte, der die Anweisung an die Pflegenden enthielt, die Ernährung nicht länger fortzusetzen. Beide gingen davon aus, daß sich das Pflegepersonal an die Anweisung halten würde. Der Pflegedienstleiter rief jedoch das Vormundschaftsgericht an. Das Gericht entschied, daß die Ernährung fortzuführen sei. Daraufhin stellte der behandelnde Arzt dennoch die Behandlung ein. Die Patientin verstarb an einer akuten Komplikation ihrer Lungentätigkeit. Nach Schilderung des Falles in den Urteilen der Gerichte verwundert zunächst die Art und Weise, wie der Sohn der Betroffenen und der Arzt ihre Entsch...
Inhalt
Inhalt Vorwort 11 1Einführung14 1.1Medizin am Lebensende 14 1.2Selbstbestimmung am Lebensende und die Frage der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen 22 1.3Fragestellungen und Gegenstand der Untersuchung25 2Widerstreitende Begriffe in Judikatur und medizinethischen Dokumenten der Ärzteschaft 29 2.1Rechtliche Einordnung medizinischer Handlungen am Lebensende 31 2.2Die Beschreibung medizinischer Handlungen am Lebensende in den Dokumenten der Ärzteschaft33 2.3Kritik der Konzepte der passiven und der indirekten Sterbehilfe 35 2.4Alternative Konzepte zur Beschreibung ärztlicher Handlungen am Lebensende 42 3Kritik der aktiven Sterbehilfe und des ärztlich assistierten Suizids 49 3.1Kritik der Gleichsetzung von Therapiebegrenzung und aktiver Sterbehilfe50 3.2Kritik der aktiven Sterbehilfe53 3.3Kritik der ärztlich assistierten Selbsttötung61 4Selbstbestimmung am Lebensende und ihre Grenzen64 4.1Autonomie und medizinische Indikation 64 4.2Medizinische Indikationsstellung: Pflicht zur Transparenz 67 4.3Medizinische Indikationsstellung als dialogischer Prozeß68 4.4Heteronome Aspekte der Selbstbestimmung und Grenzen der Autonomie des kranken Menschen69 5Exkurs: Künstliche Ernährung am Lebensende 73 5.1Ernährungstherapie bedarf einer Indikation73 5.2Grenzen der Ernährungspflicht76 6Die Patientenverfügung 79 6.1Politische und gesellschaftliche Entwicklungen79 6.2Formen der Vorabverfügung 81 6.3Handhabung und Rechtslage in anderen Ländern83 6.4Rechtslage in Deutschland85 6.5Medizinethische Aspekte89 6.6Angehörige als natürliche Stellvertreter91 7Akzeptanz von Patientenverfügungen Eine empirische Untersuchung95 7.1Fragestellung 97 7.2.Methodik 98 7.3 Ergebnisse 117 7.4Diskussion der empirischen Befunde 151 8Ein Resümee177 8.1Medizinische Handlungen am Lebensende: Analyse und Kritik177 8.2Die empirische Untersuchung zur Verbreitung und Akzeptanz von Patientenverfügungen183 9Eine Alternative: der umfassende Versorgungsplan (advanced care planning)187 10Literatur194 11Anhang: Dokumente zur Medizinethik 211 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung212 Deklarationen des Weltärztebundes zu medizinischen Handlungen am Lebensende218 Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften)219 AMA-Policy: Stellungnahmen der American Medical Association zu medizinischen Handlungen am Lebensende225 Stellungnahme der British Medical Association zur Sterbehilfe (Assisted Dieing) vom Juni 2005231 Zwischenbericht Patientenverfügungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Ethik und Recht der modernen Medizin (Kurzfassung)232 Stellungnahme des Nationalen Ethikrates Patientenverfügung - ein Instrument der Selbstbestimmung (Auszug)241 Patientenautonomie am Lebensende. Ethische, rechtliche und medizinische Aspekte zur Bewertung von Patientenverfügungen. Bericht der Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" (Auszug)245 12Register258
Schlagzeile
Kultur der Medizin Geschichte Theorie Ethik Herausgegeben von Andreas Frewer