Beschreibung
"Wir fangen noch mal an. Wir geben nicht auf" - das ist das Leitwort für die fünf Romane, in denen Lars Gustafsson ein weit angelegtes Zeitgemälde über die Wirklichkeit der ausgehenden sechziger Jahre entworfen hat: die Autobiographie 'Herr Gustafsson persönlich', das Jugenddrama 'Wollsachen', der prophetische Ökothriller 'Das Familientreffen', 'Sigismund' und der 'Tod eines Bienenzüchters', in dem ein Lehrer den Krebstod erleidet. Nun liegen die immer noch aktuellen Werke in einem Band vor - zusammen sind sie eine bewegende Geschichte des Umbruchs.
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Autorenportrait
Lars Gustafsson (1936-2016) war einer der bedeutendsten Autoren Schwedens. Der Romancier, Lyriker und Philosoph lebte und lehrte lange Zeit im Ausland, u.a. an der University of Texas in Austin. Hinzu kamen mehrere Forschungsaufenthalte in Berlin, Bielefeld und Tübingen. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, 2009 erhielt er die Goethe-Medaille, 2015 wurde ihm der Thomas-Mann-Preis verliehen. Bei Hanser erschienen zuletzt Der Dekan (Roman, 2004), Risse in der Mauer (Fünf Romane, 2006), Die Sonntage des amerikanischen Mädchens (Eine Verserzählung, 2008), Frau Sorgedahls schöne weiße Arme (Roman, 2009), Alles, was man braucht. Ein Handbuch für das Leben (mit Agneta Blomqvist, 2010), Das Lächeln der Mittsommernacht. Bilder aus Schweden (mit Agneta Blomqvist, 2013), Der Mann auf dem blauen Fahrrad (Roman, 2013), der Gedichtband Das Feuer und die Töchter (2014), Doktor Wassers Rezept (Roman, 2016) und Etüden für eine alte Schreibmaschine (Gedichte, 2019).
Leseprobe
Im Schraubstock der Mächte Über den Flußtälern von Rhein und Main lag die bleigraue Schicht der schwefeldioxydvergifteten Luft wie ein Deckel. Frankfurts chemische Industrien mischten eine tückische kleine Dosis von tödlichem Gift in die Luft; wie ein unsichtbares Gift drang meine eigene Müdigkeit immer tiefer in die feinen Gefäße und Schichten des Organismus ein. Ich fühlte eine Müdigkeit, die größer war als Jahre und Tage, und ich wußte, daß sie tieferen Quellen entsprang als nur der Luft, dem Ort und der Stunde. Noch einige Tage zuvor hatte ich die schwache Hoffnung genährt, daß mein Freund E., dieses kluge reptilartige Geschöpf, der nach seiner jahrelangen Tätigkeit als Ratgeber bei Fidel zuletzt aus der kubanischen Gemeinschaft ausgestoßen worden war und nun wieder einsam in einer abgeschiedenen Villa in Friedenau seine Manuskripte ordnete, mir einige Tage der Ruhe würde schenken können, eine Atempause, eine kleine Weile jener kostbaren und seltsamen Kühle, über die nur er verfügt. Einige wenige Reptilien sind freundliche Geschöpfe. Sie betrachten uns mit ihren ruhigen, klügeren Augen, sie hören uns geduldig an. Sie verstehen uns nicht, ebensowenig wie wir sie verstehen, aber sie betrachten uns ohne Verachtung und ohne Liebe. Schon jetzt am Nachmittag, zwei Stunden vor dem Abflug nach Berlin, begann ich die Sinnlosigkeit meines Entschlusses zu erkennen. Und ich sah mich selbst als ein mechanisches Wesen, ein aufgezogenes Blechmännchen mit einem Schlüssel im Rücken, das seinem festgelegten Programm folgt und es nicht mehr aufhalten kann. Einige Tage zuvor hatte ich den Hotelportier am Telefon einige Worte auf polnisch sagen hören, und am gleichen Nachmittag, während ich wartend vor seiner geschmacklos eleganten Loge saß, hatte ich aus Spaß einige der wenigen mir bekannten polnischen Wendungen vorgebracht. Diese Worte hatten uns zu Landsleuten gemacht. Und als ich jetzt meine Rechnung bezahlen wollte, beugte er sich vertraulich über die Theke und ließ durchblicken, als würde er mir damit eine besondere Gunst erweisen, daß er für zwanzig Mark bereit sei, mir ohne weitere Umstände ein Zimmer für die Buchmesse des nächsten Jahres zu besorgen. Mit einem plötzlichen Kältegefühl im Zwerchfell erkannte ich das ganze Ausmaß meiner Leere, meiner Verzweiflung. Nächstes Jahr! Allein der Gedanke, daß jemand die leichtfertige Kühnheit, den blinden Optimismus besitzen könnte, an so etwas wie den Oktober des nächsten Jahres zu denken, ließ mich mit schmerzenden Lungen Atem holen. Ich gab ihm zehn, was ihn offenbar erstaunte, ohne daß ich ausmachen konnte, ob er darüber staunte, daß die Summe groß oder daß sie klein war. Wir trennten uns mit ein paar höflichen Phrasen, und als ich endlich draußen auf der Straße stand, in dem immer schwerer lastenden Nebel, der blau war von Auspuffgasen, hatte ich einen Augenblick lang das Gefühl, als wäre meine letzte Verbindung zur Menschheit abgebrochen. Nicht unähnlich einem Ballon, der das letzte seiner locker befestigten Schleppseile abgestreift hat, fühlte ich mich in eine immer größere Leere hineintreiben. Montags geht der Linienflug der Pan American von Frankfurt am Main nach Westberlin um 18:10. Man reist von der Inlandhalle ab, und das ist mir immer paradox erschienen. Zwei Länder könnten sich nicht mehr voneinander unterscheiden als das narbige, das kluge Berlin mit seinem lebhaften, scharfen Intellekt, mit seinen revolutionären Gruppen, marxistischen Kinderläden, anarchistischen Kommunen, seinen blauen, roten, weißen Pamphleten, seinen Straßencafés und Buchhandlungen, Berlin, diese geheimnisvolle Schmiede zukünftiger Kräfte, eingesperrt hinter hohen Mauern und Minengürteln inmitten endloser Kartoffeläcker, dieses Berlin, das alles weiß, alles erfahren und seit langem seinen Zustand akzeptiert hat, und die dumme, geldstrotzende Bundesrepublik mit ihren Supermärkten, ihren transportablen Fernsehgeräten und ihren knarrenden Prachtmöbeln, schweren Teppichen, gläsernen Tischplatte