Beschreibung
Hugo Höllenreiner ist Mitglied einer großen bayerischen Sintifamilie. 1943 wurde er als Neunjähriger nach Auschwitz deportiert, wo Dr. Mengele ihn und seinen Bruder mit brutalen medizinischen Experimenten quälte. Über Ravensbrück und Mauthausen kam Hugo nach Bergen-Belsen. Wie durch ein Wunder überlebte er mit seinen Eltern und Geschwistern, doch viele nahe Verwandte wurden ermordet. In langen Gesprächen mit der Autorin kamen Stück für Stück verdrängte Erinnerungen zurück, von denen erst der über Sechzigjährige zu sprechen vermag. Ein erschütterndes Dokument deutscher Geschichte.
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Autorenportrait
Anja Tuckermann, 1961 geboren, lebt als freie Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Sie schreibt Romane, Theaterstücke und Libretti sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene. Bei Hanser erschien bereits Denk nicht, wir bleiben hier! - Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner (2005), für das sie den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt.
Leseprobe
»Die Verfolgung war schon 1933 da, wo der Hitler ans Ruder kam. Da bin ich geboren und meine Mama hat mir den Namen Adolf gegeben. Ich heiße Hugo Adolf Höllenreiner. Warum sie mich Adolf genannt hat, ist leicht zu erklären. Dass uns vielleicht nichts passieren kann, wenn ich den Namen habe wie der Hitler.« Hugo wachte auf, weil er Schreie und Krachen und Weinen hörte. Erschrocken kletterte er aus dem warmen Bett und rannte in die Novemberkälte hinaus. Draußen dämmerte es, der Himmel war grau. Ziellos und panisch liefen die Pferde herum, galoppierten aus dem Hof, auf die Straße. Der Pferdestall war weg, abgebrannt, schwelte und rauchte, die Pferde hatten sich losgerissen und ?üchteten, die Fuhrwerke standen noch da, aber verrußt oder vom Feuer verkohlt. Im Hof die Mama, mit einer Bürste in der Hand, sie schluchzte und schrubbte einen Leiterwagen. Was wollen die Leute von uns? Was machen die mit uns? Wir haben doch nichts getan. Dachte Hugo. Auf den Wiesen, auf der Straße irrten die Pferde, weißer Dampf stieg aus ihren Nüstern. Der Dada, Hugos Vater, und Dadas Bruder, Onkel Konrad, ?ngen eines nach dem anderen ein, sie brachten alle Pferde zurück. Und die Mama weinte. »Das ist meine erste Erinnerung - dass die Mama so geweint hat. Da war ich fünf. Mama, warum weinst du denn? Mir hat die Mama so leid getan. Und die Traurigkeit von ihr. Haben wir erst später gemerkt, dass sie schon ungefähr gewusst hat, was uns bevorsteht.« Die Eltern, Hugo und seine fünf Geschwister wohnten in der Deisenhofener Straße 64 in München-Giesing. Damals war Frieda, die Älteste, neun Jahre alt, Manfred sechs, dann kam Hugo, Rosi war drei, Rigo eineinhalb und Januschek war noch nicht auf der Welt. Der Dada hatte das kleine Haus mit Stall und Scheune nach Hugos Geburt gekauft. Er war Fuhrunternehmer und handelte mit Pferden, besaß vier Leiterwagen und sieben Pferde. Wenn Leute umziehen wollten, transportierte Dada ihre Sachen. Onkel Konrad wohnte mit Tante Notschga und fünf Kindern gegenüber in der Nummer 79. Auch er handelte mit Pferden. Um die Ecke in der Unterbergstraße lebten die Großeltern. Babo, der Großvater, betrieb ein Kasperltheater. In München-Giesing erstreckten sich kilometerweit Wiesen und Äcker. Die meisten von Dadas Brüdern und Schwestern lebten inzwischen mit ihren Familien auch in München. »In München war es nicht so wie heute. Heute sind da nur Straßen, Autos und Häuser, man erkennt nichts mehr. Damals hast du mit den Pferden hinfahren können, wo du gewollt hast. Da hat keiner was gesagt, außer es war eingezäunt, aber die meisten Wiesen waren frei. Das war eine schöne Zeit, die herrlichste Zeit.« Bevor Dada, seine Eltern und Geschwister sich mit ihren Familien in München niederließen, hatten manche ihren Wohnsitz in Arnstadt in Thüringen und manche in Kassel in Hessen. Aber ihre Staatsangehörigkeit war bayerisch. Sie stammten aus Burgpfarrnbach bei Fürth. Einen festen Wohnsitz und eine Staatsangehörigkeit brauchten sie lebensnotwendig, weil sie jedes Jahr einen Wandergewerbeschein beantragen mussten, den nur die Heimatgemeinde ausstellen durfte. Und nur mit dem Wandergewerbeschein konnten sie ihren Lebensunterhalt verdienen. Darauf mussten auch die Wohnwagen und das Pferd oder die Pferde eingetragen sein. Babo, Onkel Peter, Onkel Friedla, Onkel Babist und Dada musizierten mit Geige, Gitarre und Drehorgel, Mami, die Großmutter, und Mama gingen mit Spitzen und Kurzwaren hausieren. Mami flickte auch Schirme. Außerdem handelten die Männer mit Anzugstoffen und Wolle, auch mit Geigen, mit Pferden - was sich ergab. Früher hatte Babo erst als Seiltänzer und Turner, später mehr als zehn Jahre lang als Scherenschleifer seine Familie miternährt. Onkel Eduard war in der Jugendzeit auch als Seiltänzer und Turner auf Jahrmärkten aufgetreten, zu ihren Nummern gehörte auch Hantelwerfen und Kettensprengen. An jedem Ort mussten sie sich anmelden, wenn sie ankamen, und um Genehmigung bitten, bleiben zu dürfen. Und sie mussten sich wieder abmelden, a Leseprobe