Beschreibung
Girard preist das "mimetische Begehren": Jeder Mensch begehrt nur das, was auch ein anderer begehrt. Daraus entsteht Rivalität, die zu einer Gewalteskalation führt - symbolisiert durch einen Satan, der nur durch die Wahl eines Sündenbocks ausgetrieben werden kann. Der kollektive Mord also bildet den Ursprung aller menschlichen Kultur. René Girard veranschaulicht die Rolle des Bösen in menschlichen Kulturen an Beispielen aus den Mythen und der Bibel.
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Autorenportrait
René Girard (1923-2015) lehrte seit 1947 als Professor für Französische Sprache, Literatur und Kultur an der Stanford University in Kalifornien. Er war Mitglied der Academie Française.Sein Werk Das Heilige und die Gewalt (1972) nahm großen Einfluß auf die Religionsgeschichte und Kulturanthropologie. Bei Hanser erschienen: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums (2002), Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen (2005) und Shakespeare. Theater des Neides (2011).
Leseprobe
Hinter der Passion Christi, hinter einigen biblischen und zahllosen mythischen Dramen, hinter den archaischen Mythen erkennen wir denselben Prozeß von Krise und Krisenbeilegung, der auf dem Mißverständnis des einzigen und alleinigen Opfers gründet - denselben "mimetischen Zyklus". Befassen wir uns mit den großen Ursprungserzählungen und Gründungsmythen, dann stellen wir fest, daß sie selbst von der fundamentalen Rolle des einzigen und alleinigen Opfers samt seiner geschlossenen Ermordung handeln. Die Vorstellung ist allgegenwärtig. In der sumerischen Mythologie gehen die kulturellen Institutionen aus dem Körper eines einzigen Opfers, Ea (Enki), Tiamat, Kingu, hervor. Desgleichen in Indien: Die Zerstückelung des höchsten Opfers, Purusha, durch die Menge der Opfernden erzeugt das Kastenwesen. Analoge Mythen finden sich in Ägypten, in China, bei germanischen Völkern, überall. Die schöpferische Kraft des Mordes findet ihren konkreten Niederschlag häufig in der Bedeutung, die den Teilen des Opfers beigemessen wird. Von jedem Teil wird angenommen, er bringe eine besondere Institution hervor: einen totemischen Clan, eine territoriale Unterteilung, mitunter eine Pflanze oder ein Tier, das der Gemeinschaft als Hauptnahrungsquelle dient. Der Körper des Opfers wird zuweilen mit dem Samen verglichen, der vergehen muß, um zu keimen; dieses Keimen ist identisch mit der Wiederherstellung der durch die voraufgehende Krise beschädigten Kultur oder mit der Schöpfung eines gänzlich neuen Systems, das häufig als das erste je erzeugte gilt, eine Art Erfindung der Menschheit. "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt&39;s allein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht." Die Mythen, welche die Gründerrolle des Mordes bekräftigen, sind derart zahlreich, daß selbst ein so wenig zu Generalisierungen neigender Mythologe wie Mircea Eliade den Hinweis darauf für nötig hielt. In seiner Geschichte der religiösen Ideen spricht er von schöpferischen Mordtaten, die den zahlreichen Gründungserzählungen und Gründungsmythen überall auf der Welt gemein sind*. Es gibt hier ein Thema, dessen Häufigkeit den Mythologen sichtlich überrascht, ein "transmythologisches Phänomen" gewissermaßen; seinem rein deskriptiven Verfahren getreu hat Mircea Eliade jedoch meines Wissens niemals eine universale Erklärung versucht, wie ich sie glaube geben zu können. *
Die Doktrin des Gründungsmordes ist nicht nur mythisch, sondern auch biblisch. In der Genesis fällt sie mit der Ermordung Abels durch Kain in eins. Die Erzählung dieser Tötung ist kein Gründungsmythos, vielmehr die biblische Interpretation sämtlicher Gründungsmythen. Sie berichtet uns über die blutige Stiftung der ersten Kultur und über deren Folgen; sie bilden den ersten mimetischen Zyklus in der Bibel. Wie geht Kain vor, um die erste Kultur zu gründen? Der Text stellt die Frage nicht, beantwortet sie aber implizit, indem er sich auf zwei Themen beschränkt: Das erste ist der Mord an Abel, das zweite, wie die erste Kultur Kain zugeschrieben wird: offensichtlich als direkte Verlängerung des Mordes und in Wahrheit als eins mit den nicht rächend, sondern rituell kodierten Folgen des Mordes. Die eigene Gewalt flößt den Mördern heilsame Furcht ein. Sie gibt ihnen die ansteckende Natur mimetischer Verhaltensweisen zu verstehen und läßt sie die zukünftigen katastrophalen Möglichkeiten erahnen: So wird es mir ergehen, nun, da ich meinen Bruder erschlagen habe, sagt sich Kain: "... daß mich totschlägt, wer mich findet" (1. Mose 4,14). Die Wendung "daß mich totschlägt, wer mich findet" zeigt, daß sich die menschliche Rasse zu jenem Zeitpunkt nicht auf Kain und dessen Eltern, Adam und Eva, beschränkte. Das Wort Kain bezeichnet die erste, durch den ersten Gründungsmord geeinte Gemeinschaft. Deshalb ist die Zahl der potentiellen Mörder gr ... Leseprobe