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Der Bibliothekar

Roman, btb-TB

Erschienen am 02.02.2009
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442736898
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 18.7 x 11.8 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

?Einer der besten Romane, die in den letzten Jahren im deutschsprachigen Sprachraum erschienen sind.? Neue Zürcher Zeitung Wer immer noch klagt über das Fehlen deutscher Großstadtliteratur und das Unvermögen deutscher Dichter, erotische Literatur zustande zu bekommen ? Judith Kuckart wird ihn trösten.? Die Welt Wie Judith Kuckart ihren Hans-Ullrich ins Verderben tappen lässt, ist große Kunst.? Der Tagesspiegel

Autorenportrait

Judith Kuckart, geboren 1959 in Schwelm/Westfalen, absolvierte eine Tanzausbildung an der Folkwang-Schule in Essen und studierte Literatur- und Theaterwissenschaften in Köln und Berlin. 1986 gründete sie das Tanztheater Skoronel in Berlin, mit dem sie bis 1998 an verschiedenen deutschen und internationalen Bühnen Stücke aufführte, an denen sie als Autorin, Tänzerin, Choreografin und Regisseurin mitwirkte. Für ihr Werk wurde Judith Kuckart vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis 2012, dem Margarete-Schrader-Preis für Literatur der Universität Paderborn 2006 und dem Deutscher Kritikerpreis 2004. Ihr Roman "Wünsche" stand 2013 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

Leseprobe

Hans-Ullrich Kolbe klappte das Buch zu, nahm seinen hellen Mantel über den Arm und schob einen Stadtplan in die Jackettasche. Es war Sonnabend, spät und Ende April. Er zog die Vorhänge in seiner Mansarde zu. Auf dem Küchentisch unter der Leselampe lagen zwei Riegel Kinderschokolade gekreuzt übereinander, und das leere Weinglas trug am Rand die milchige Spur seiner Lippen. Daneben lag das Buch. Ein gewisser Alain Bernardin hatte vor dreißig Jahren im 8. Arrondissement von Paris das CRAZY HORSE gegründet. Zwei Wächter im Polizeikostüm sicherten den Eingang des Nachtclubs und die bürgerliche Atmosphäre. Alain Bernardin war magisch angezogen von schönen Frauen, und nur eine nackte Frau, wie gezeichnet im komplizierten Spiel des Lichts, war für ihn schön. Hob sich der Vorhang, so stand im 1. Kapitel, zeigten Frauen mit großer Lust am Zeigen ihre perfekten Körper. Tänzerinnen verschoben die Grenze zur Nacktheit so delikat, daß die Gesichter der Zuschauer sich glücklich öffneten, nicht schmal wurden vor Gier. Man sah, was man nicht sah. Die Szenen der Show wechselten alle fünf Jahre, die eine so überraschend und raffiniert ausgearbeitet wie die folgende. Alain Bernardin war ein Zauberer. Er befreite die männlichen und die weiblichen Phantasien gleichermaßen. Das hatte Hans-Ullrich Kolbe gelesen. Manche Seite hatte er dreimal gelesen. Mehrmals war er mit der Hand über den glänzenden Einband gefahren, wie eine Frau über Seidendessous streicht, und dabei die Adern und feinen Runzeln auf ihrer Hand sieht. Paris 47 23 32 32 hatte er gewählt. Die S-Bahn war zweihundert Meter von ihm entfernt vorbeigerattert. Eine Frauenstimme hatte auf Englisch Konditionen genannt. 450 Francs Eintritt, eine halbe Flasche Champagner pro Person, zwei Shows am Abend, eine um 20.30 Uhr, die zweite um 23 Uhr, samstags drei. Heute also drei. Hans-Ullrich hatte tatsächlich auf die Uhr geschaut an seinem offenen Fenster in Friedenau. Mit einem Flugzeug könnte er es zur Late Show um 0.50 Uhr noch schaffen. Er hatte aufgelegt. Vom Lesen ganz verrückt vergaß er, was er sehr wohl wußte. Berlin war nicht Paris. Trotzdem. Er hatte seine Armbanduhr angelegt. Den Mantel über den Arm verließ er das Haus. Er war Bibliothekar. 'Herr, zeige mir Deine Wege und lehre mich Deine Steige', erinnerte er auf der U-Bahn-Station Dahlem Dorf einen Psalm. Er tippte Nummer 25, ja, Psalm 25. Er legte den Mantel über die Schultern und warf den rosa Handzettel in den Papierkorb. 'LA FEMME, für den anspruchsvollen Gast.' Das weibliche Personal in dem Club war ihm vertraut gewesen wie Studentinnen oder Kolleginnen, auch in der Verkleidung als Eisbecher. Eine Rote hatte die Arme zu Tina Turner gehoben und angetanzt gegen die Müdigkeit. Der Scheinwerfer hatte die rasierten Achseln nach Schweiß abgesucht. Hans-Ullrich hatte mit dem Rücken zur nackten Tänzerin noch einen Kaffee getrunken, war in seinen frischgeputzten Schuhen immer wieder vom Chromstreben des Barhockers gerutscht und auch deshalb schon bald gegangen. Die UBahn fuhr ein. Er saß allein im Waggon und lutschte ein Pfefferminzbonbon. Er stieg um, setzte sich neben eine junge Mutter. Dem Kind auf ihrem Knie brannten vor Müdigkeit die Ohren rot. Geduldig gab er ihm mehrmals die Rassel zurück und setzte das Gesicht auf, mit dem er die jüngste seiner Töchter, Edna, angelächelt hätte. Kurfürstendamm stieg er aus. Neben dem Kino Astor ließ er sich in die Dorrett Bar locken. Der Türsteher hatte ihn, als HansUllrich zögerte, mit 'Herr Doktor' gelockt. HansUllrich maß jedes Körperteil, maß Bein um Bein an den Sätzen vom schönen Bein. Von einer winzigen Beule an der Rückseite der Oberschenkel hatte in seinem Buch 'Das Crazy Horse' nichts gestanden, aber? Aber so ein Buch log doch nicht. Es erfand um einen Kern Wahrheit herum, manchmal mit geliehener Pracht. Aber es betrog seinen Leser nicht. Da wechselte die Nummer. Zwei Träger brachten einen goldenen Käfig auf die Bühne. Ein Mann neben Hans-Ullrich zeigte auf das Mädche Leseprobe