Beschreibung
Ein meisterhaftes Buch über die Liebe. "Rosenhainaoe versammelt sechs geheimnisvoll schöne, fein nuancierte Geschichten über die Liebe, jede für sich ein kleines Kunstwerk in Komposition und Themenführung. Zugleich sind es wunderbar feinsinnige Geschichten über unsere fünf Sinne. Die sechste Geschichte, "Der Denkeraoe, vereint schließlich die fünf vorherigen zu einem Ganzen.
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Autorenportrait
Claire Beyer, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Markgröningen bei Ludwigsburg. Sie veröffentlichte Erzählungen, Kurzprosa und Gedichte in verschiedenen Anthologien sowie einen Band mit Lyrik. "Rauken" ist ihr Romandebüt.
Leseprobe
Rot Das Salz kommt von den Tränen der Fische! Der Notar Johan Bengte hatte es Bo nachgerufen, als sie schon im Flur des Nachlassgerichtes stand. Ihr sagte diese Bemerkung ebenso wenig wie alles andere, was er ihr zuvor mitgeteilt, nein, vorgetragen hatte. Denn Bengte war der Rezitator und sie seine Zuhörerin. Das Stück hieß Testamentseröffnung, er aber hatte heute kein dankbares Publikum. Bo zeigte sich weder gerührt noch demütig, noch war ein habsüchtiger Zug in ihrem Gesicht zu entdecken gewesen. Nur Ungläubigkeit, Unverständnis und Zweifel. Schnell hatte der Notar das Interesse am Spiel verloren und die Amtshandlung mit entschlossener Eile vollzogen. Sie sei Erbin. Ihr Großvater Sverre Grote habe ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, und da sie die einzig bekannte Nachfahrin sei, könne sie das Erbe annehmen - oder auch nicht. Er wippte dabei mit den Zehenspitzen, und obwohl er wieder sicher auf den Fersen landete, flogen die Papiere zu Boden. Schnell stopfte er alles in ein großes Kuvert und bemühte sich nicht einmal mehr, freundlich zu sein. Sie unterschrieb. Bo Grote hatte ihre scheinbare Gleichgültigkeit mit einiger Mühe gespielt. Was gingen den Notar ihre Gefühle an. Sie hatte seine großspurige Generosität von Anfang an nicht gemocht, sollte er doch Ergriffenheit bei denen suchen, die ihm feuchte Blicke zuwarfen und deren Trauerkleider tausend Taschen hatten. Sie war gekommen, das Erbe abzulehnen. Dass sie es sich anders überlegt hatte, lag an ihrem Trotz. Und den Fakten. Jetzt umklammerte sie den Umschlag, der wegen seiner Größe nicht in ihren Stoffbeutel passte, und die Neugier überkam sie wie ein wilder Hunger. Nur mit größter Anstrengung riss sie das Kuvert nicht schon unter dem Torbogen des Nachlassgerichts auf. Selbstbeherrschung hatte sie ihr Vater gelehrt, der Neugier verabscheut und es entschieden abgelehnt hatte, spontanen Wünschen nachzugeben. Wer dem Teufel auch nur den kleinen Finger reiche, verliere nicht nur die ganze Hand, sondern vor allem seine Seele. Ihr Vater fehlte ihr. Seine liebevollen Erziehungsversuche hatten oft genug an der Eisbude geendet, wo er augenzwinkernd versicherte, der Teufel meide in jedem Fall italienisches Eis, weshalb die Erfüllung solch kleiner Wünsche für die moralische Entwicklung ungefährlich sei. Er hätte gewusst, was richtig oder falsch war, und je länger sie die Straße entlanglief, desto mehr Zweifel überkamen sie, ob sie das Erbe hätte annehmen dürfen. Ihren Großvater hatte sie kaum gekannt. Als er im vergangenen Monat starb und sie das Mobiliar und die persönlichen Dinge aus seiner Blockhütte abholen musste, war ihr, als beginge sie einen Diebstahl. Man hätte die Tradition der Verbrennung persönlicher Gegenstände beibehalten sollen. Selbst wenn einem der Verstorbene nicht nahe stand, wurden Kleidungsstücke, Geschirr oder Kopfkissen zu Fetischen, die nichts als Trauer über den Tod auslösten. Sie hat darüber den Himmel vergessen. In Norwegen schaut jeder zum Himmel, der aus dem Haus tritt. Schon die ganz Kleinen schauen nach oben und wissen, was er vorhat. Heute hat er viel vor. Seit dem Morgen türmt er Wolken übereinander und wird nicht eher damit aufhören, bis die unterste platzt, damit die Menschen den Blick senken und er sich in Ruhe neue, wunderbare Farben ausdenken kann. Es ist die Zeit, in der man in eines der Restaurants einkehrt. Davon gibt es in Trondheim viele, auch in der Kjopmannsgate. Hier ist sie oft, trifft sich mit Freunden, hatte sich auch mit den Eltern getroffen, die nicht in ihre Wohnung kommen wollten. Ihre Mutter hatte stets vorgegeben, wegen einer Tierfellallergie nicht kommen zu können, obwohl Bo nur eine Schildkröte namens Thor besaß. Ein heftiger Regenschauer ließ Bo schneller gehen. Weil sie keinen Schirm dabeihatte, war das Kuvert vor Nässe weich geworden. Der Pub im alten Kaufmannshof hatte die Tür weit geöffnet, und in der Loggia war noch ein Tisch frei. Bo liebte es, bei Regen auf den Nidelv zu sch ...