Beschreibung
Marlen hat ein schönes Leben, unverschämt schön, denkt sie manchmal. Aber wie schnell das Glück zerrinnen kann, auch wenn man ein privilegiertes Leben führt, erfährt sie, als ihr Sohn eines Tages verschwindet. Angstvolles Warten und später die traurige Gewissheit seiner psychischen Krankheit rauben ihr Schritt für Schritt die Leichtigkeit des Lebens. Ein Roman über den Kampf einer Mutter um den Zusammenhalt ihrer Familie und ihre Konfrontation mit einer Krankheit, die in der Gesellschaft wenig Verständnis findet.
Autorenportrait
Marion Karausche, geboren in Deutschland, ist mit ihren drei Geschwistern in Madagaskar aufgewachsen. Sie hat an der Sorbonne, Paris (Master in Langues Etrangères appliquées), und an der University of Kent, England, studiert und anschließend als Dolmetscherin (Französisch, Englisch, Deutsch) gearbeitet. Bis Anfang 2021 lebte sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Nahen Osten, wo sie als Übersetzerin u. a. für das Goethe-Institut in Beirut und als Sprachlehrerin an einer amerikanischen Schule tätig war. Der leere Platz ist ihr erstes Buch.
Leseprobe
Es ist natürlich lächerlich zu behaupten, dass die Art, wie ein Telefon klingelt, die Stimmung des Anrufers widerspiegeln kann. Und doch: Das Telefon klingelte anders. Dunkler. Als müsse es, um die schlechte Botschaft zu überbringen, alles Fröhliche, alles Lebendige unterdrücken. Und sie, eben noch im Tiefschlaf, es war sechs Uhr morgens, war sofort hellwach. Sie spürte, wie ihr Körper erstarrte, während ihr Herz plötzlich so stark klopfte, dass sie es deutlich fühlen, ja, sogar hören konnte, seine hin und herrollende Bewegung im Brustkorb, rhythmisch und schwer. Verzweifelt suchte sie in ihrem Kopf nach einer anderen, einer erfreulicheren Erklärung für diesen Anruf. Eine Geburt? In ihrem Bekanntenkreis war keine Schwangerschaft bekannt. Oder einfach eine falsche Nummer? Das konnte es sein. Doch es gelang ihr nicht, sich selbst zu täuschen. Sie wusste genau, dass dieser Anruf ihr galt, und dass es keine Möglichkeit gab, der Nachricht zu entkommen. Und sie wusste auch, dass, sobald sie das Gespräch annehmen würde, nichts mehr so sein würde wie früher. Trotzdem konnte sie sich nicht rühren. Sie lag ganz still in ihrem Bett. Ihr war eiskalt. Das Klingeln verstummte. Jetzt ergriff sie Panik. Was, wenn sie den Anruf nun verpasst hatte? Bitte nicht! Nicht noch länger in Ungewissheit leben. Lieber die Nachricht, jetzt, sofort, egal wie schlecht. Die letzten Jahre hatten nur aus Ungewissheit, aus Angst, aus Warten bestanden. Nun war jede zusätzliche Sekunde eine Folter. Sie sprang, fiel beinahe aus dem Bett, stolperte und rannte zum Telefon, das auch schon wieder zu klingeln anfing. Diesmal war sie fast dankbar dafür und riss den Apparat an sich, um ihn unnötig fest an ihr Ohr zu pressen. Eine Krankenschwester meldete sich. Ihren Namen bekam sie in der Aufregung nicht mit, auch nicht den Namen der Klinik. Nur, dass es sich um eine psychiatrische Klinik in Deutschland handelte, in der sich ihr Sohn befinden sollte. Warum zum Teufel eine psychiatrische Klinik? Und dann wurde ihr klar, was das auch bedeutete: er lebt! Gott sei Dank. Er lebt. Seit über einem Jahr - wie lange eigentlich genau? -, sie hätte es in diesem Moment nicht sagen können, obwohl sie so oft die Tage gezählt hatte, war dieser Anruf das erste Lebenszeichen von ihrem Kind, von ihrem so sehr vermissten Sohn. Fröstelnd stand sie im Wohnzimmer. Die ersten fahlen Lichtstrahlen, die sich durch die Rillen der Jalousien pressten, strichen wie sanfte Hände über die Möbel, als wäre es ihre allmorgendliche Aufgabe, sie für den bevorstehenden Tag zu arrangieren. Schon konnte man draußen die frühen Schreie der exotischen Vögel hören, ein Kreischen, so menschlich, dass Marlen jedes Mal zusammenfuhr, und kurz darauf die ersten Rufe der Menschen, die die Schreie der Vögel schlagartig verstummen ließen. Dann kurzzeitig wieder vollkommene Stille. Ihre Hand hielt noch immer den Apparat fest umklammert, obwohl am anderen Ende das Gespräch längst beendet worden war. Jetzt erst bemerkte sie ihren Mann. Martins Haar war in den letzten Jahren vollkommen ergraut und stand jetzt nachtzerzaust und wild von seinem Kopf ab. In seinem weiten Pyjama wirkte er schlaksig und etwas verloren. 'Kai?', fragte er. Und in seiner Frage, die nur aus diesen drei Buchstaben bestand, lag so viel Resignation, so viel Erschöpfung, dass sie eigentlich gar keine Frage mehr war, sondern eine fatalistische Feststellung. Kai. 'Ja' flüsterte sie. 'Kai. Er ist in einer Klinik. In Deutschland. Er hatte wohl einen Zusammenbruch. Sein Auto er hat sein Auto angezündet. Sagen sie. Mitten in der Stadt. Wir sollen kommen.' Sie war im Urlaub schwanger geworden, damals auf Hawaii, und hatte darum auf diesen Vornamen bestanden: Kai, was auf Hawaiianisch 'das Meer' bedeutet. Ob es daran gelegen hatte, dass sie im Palaau State Park auf der kleinen Insel Molokai kichernd den majestätisch zum Himmel ragenden Phallic Rock berührt hatte, einen steinernen Penis, dem man magische Kräfte zuschrieb, oder ob es einfach den lauen tropischen Nächten zu verdanken gewesen war? So oder so war dort vor sechsundzwanzig Jahren ihr erstes Kind entstanden. Mechanisch und nun wieder so ruhig, als ginge es darum, für eine Dienstreise zu packen, zog sie ihren Koffer aus dem Schrank, legte etwas Wäsche hinein, überlegte kurz, ob warme Sachen in Europa zu dieser Jahreszeit noch nötig wären -, hier in Marokko war es schon herrlich warm - dachte sogar darüber nach, ob sie Schminksachen einpacken sollte, und schämte sich sofort für diese unangebrachte Eitelkeit. Sie wog ab, ob sie jemanden benachrichtigen sollte, entschied sich dagegen, denn ihr war klar, dass sie auf keine einzige Frage zu diesem plötzlichen Aufbruch eine Antwort hätte. Ein paar Stunden später standen sie schon am Rabat Salé Airport und warteten auf den Flug, der sie zu ihrem Kind bringen würde. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass sie, sollte dieser Moment je eintreffen, vor Erleichterung und Glück geradezu überwältigt sein würde. Doch jetzt, so sehr sie auch aufmerksam forschend in sich hinein hörte, war da nur Stille, die sie immer fester einhüllte. Und während sie ihrem Sohn entgegenflogen, der in diesem Moment zweitausend Kilometer weit weg in irgendeiner Klinik lag, wanderten ihre Gedanken die letzten Jahre zurück. Und wie jedes Mal, wenn sie an Kai dachte, versuchte sie, aus den vielen tausend vergangenen Tagen den einen Tag aufzudecken, wo ES passiert war. Versuchte, den Moment zu begreifen, der dazu geführt hatte, dass jeder Plan, den sie, die stolzen Eltern, für ihren einst so begabten Sohn geschmiedet hatten, mit bitterer Enttäuschung begraben werden musste. Vielleicht hatte die Metamorphose schon vor knapp zehn Jahren begonnen, als sie während eines Geschäftsdinners in Rabat, zu dem sie ihren Mann begleitet hatte - er arbeitete dort für eine große deutsche Firma -, eine Nachricht von ihrem damals sechzehnjährigen Sohn bekam, die sie erst amüsierte, später aber beunruhigte. 'Mama, hast du mich auch noch lieb, wenn ich ganz, ganz kurze Haare habe?', stand da auf ihrem Display. Ein kleiner Schreck hatte sie durchzuckt, ein leichtes, wehes Ziehen in der Herzgegend. Kai hatte damals schulterlange, dunkle Locken, die herrlich zu seinem etwas wilden Wesen passten und ihm den Spitznamen Mowgli eingebracht hatten. Aber natürlich hatte sie ihn noch lieb! Sie beeilte sich, ihm das sofort, wenn auch verstohlen, man saß ja bei Tisch, zu bestätigen. Als er jedoch am nächsten Morgen mit kahl rasiertem Schädel auftauchte, war es nicht so sehr sein radikal verändertes Aussehen, das sie bestürzte. Da war etwas Fremdes in seinen Augen, in seinem Gesichtsausdruck, etwas Abwesendes und auch Hartes. Warum hatte sie das nicht alarmiert? Warum hatte sie die Beklemmung, die ihr in diesem Moment den Hals zugeschnürt hatte, einfach weggeschoben, wie man es mit einem unangenehmen Traumfetzen tut, der morgens noch hängen geblieben ist, wenn sich der restliche Traum schon längst wie Frühnebel aufgelöst hat? Weil sie es nicht sehen wollte, weil sie sich eine kleine, heile Welt aufgebaut hatte, in der alles perfekt, vollkommen sein sollte. In ihrer Kindheit war nichts heil und nichts perfekt gewesen, und sie hatte sich geschworen, ihr eigenes Leben, soweit sie es beeinflussen konnte, harmonischer zu gestalten. Also war nicht, was nicht sein durfte. Auch als Kai plötzlich beim Abendbrot mit weit aufgerissenen Augen und dramatischen Gesten von Verschwörungen, von Schattenwesen und von bösen, fremden Mächten, die uns manipulierten, zu erzählen begann und ihr spätestens dann hätte klar werden sollen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte, verdrängte sie diese unangenehme Vorahnung schnell. Und so war nichts geschehen, was die friedliche Stimmung in der Familie hätte gefährden können. Zwei Jahre nach Kai war damals noch ein zweites Kind zur Welt gekommen, diesmal ein Mädchen, das sie in Gedenken an Martins liebe alte Patentante Amelia kurz Amy tauften. Amy war im selben Maße blond wie Kai dunkel, im selben Maße laut ...